Anne auf Green Gables
wie gerne Anne sie aß.
Gerade als Anne mit den Äpfeln zurück aus dem Keller kam, hörten sie Schritte auf der vereisten Veranda. Im nächsten Moment flog die Küchentür auf und Diana Barry kam blass und atemlos in die Küche gestürzt. Anne ließ vor Überraschung die Kerze und den Teller mit den Äpfeln fallen. Am nächsten Tag fand Marilla auf der Kellertreppe ein seltsames Gemisch aus geschmolzenem Wachs und Scherben vor und dankte dem Himmel, dass nicht das ganze Haus abgebrannt war.
»Was ist los, Diana?«, rief Anne aufgeregt. »Hat deine Mutter endlich nachgegeben?«
»Oh, Anne, bitte komm schnell!«, flehte Diana sie an. »Minnie May ist schwer krank. Sie bekommt keine Luft mehr, bestimmt hat sie Krupp. Maryjoe passt auf sie auf. Meine Eltern sind in der Stadt und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Ach, ich habe ja solche Angst, Anne!« Ohne ein Wort zu sagen, war Matthew aufgestanden. Er griff nach seinem Mantel und seinem Hut und verschwand in der Dunkelheit des Hofes.
»Er spannt die braune Stute an, um nach Carmody zum Doktor zu fahren«, sagte Anne, während sie eilig nach ihrer Haube und ihrer Jacke suchte. »Ich weiß es so genau, als hätte er es uns gesagt. Matthew und ich sind so nah verwandte Seelen, dass ich seine Gedanken lesen kann.«
»Ich glaube nicht, dass er den Arzt in Carmody finden wird«, schluchzte Diana. »Ich weiß, dass Doktor Blair in die Stadt gefahren ist, und Doktor Spencer ist bestimmt auch dort.«
»Weine nicht, Diana«, sagte Anne zuversichtlich. »Ich weiß genau, was zu tun ist. Du vergisst, dass Mrs Hammond dreimal hintereinander Zwillinge hatte. Wenn du auf drei kleine Zwillingspaare aufpassen musst, machst du mit der Zeit zwangsläufig jede Menge Erfahrungen. Sie hatten alle miteinander Krupp - sogar mehrmals. Warte, wir müssen eine Flasche Ipecac mitnehmen, für den Fall, dass ihr keins im Haus habt. Komm, Diana.«
Hand in Hand liefen die beiden Mädchen über die vereisten Felder. Der Schnee war zu tief, um die gewohnte Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Obgleich sich Anne ernste Sorgen um Minnie May machte, war sie für die Romantik der Situation nicht unempfänglich - eine Situation, die sie außerdem mit ihrer geliebten Busenfreundin teilen konnte, von der man sie so lange getrennt hatte.
Als sie auf Orchard Slope ankamen, lag die dreijährige kleine Minnie May auf dem Küchensofa und rang nach Luft. Ihr Gesicht glänzte fiebrig und sie warf sich unruhig hin und her. Ihr heiseres Husten schallte durch das ganze Haus. Mary Joe, die von Mrs Barry herbestellt worden war, damit sie während ihrer Abwesenheit auf die Kinder aufpasste, machte einen völlig hilflosen Eindruck. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie mit der Kleinen tun sollte.
Mit geübter Hand machte sich Anne sofort an die Arbeit.
»Es stimmt: Minnie May hat wirklich Krupp. Es geht ihr ziemlich schlecht, aber ich habe schon Schlimmeres gesehen. Als Erstes brauchen wir jede Menge heißes Wasser. Hier im Kessel ist ja kaum noch eine Tasse voll, Diana! Hier, ich fülle ihn auf, und du, Maryjoe, kannst Holz für den Ofen holen. Ich will euch ja nicht kränken, aber ich finde, mit ein bisschen Einfühlungsvermögen hättet ihr daran auch wirklich schon früher denken können. So, und jetzt ziehe ich Minnie May aus und lege sie ins Bett. Hol mir ein weiches Flanellhemdchen für sie, Diana. Ich gebe ihr erst einmal etwas Ipecac.«
Minnie May sträubte sich, doch Anne hatte nicht umsonst drei Zwillingspaare aufgezogen. Ipecac, das Brechwurzmittel, war unverzichtbar, und so trichterte sie Minnie May geduldig die Tropfen ein — nicht nur einmal, sondern noch viele Male während dieser langen, angstvollen Nacht, in der die beiden Mädchen die kleine Minnie May voller Hingabe pflegten und Maryjoe, die ebenfalls ihr Bestes geben wollte, genug heißes Wasser für ein ganzes Krankenhaus voller Krupp-Babys herbeischleppte.
Es war gegen drei Uhr, als Matthew endlich mit einem Arzt ankam. Er hatte bis nach Spencervale fahren müssen, um ihn zu finden. Jetzt war das Schlimmste schon überstanden. Minnie May schlief bereits fest.
»Ich war manchmal schon nahe dran aufzugeben«, erklärte Anne den beiden Männern. »Es wurde immer schlimmer und ich dachte sie würde ersticken. Ich habe ihr Ipecac gegeben, bis zum letzten Tropfen. Als die Flasche leer war, hatte ich kaum noch Hoffnung. Erst als sie den Schleim abgehustet hatte, ging es ihr dann schon etwas besser. Sie können sich nicht vorstellen,
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