Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
– nicht falsche – Entscheidung in neuem Licht zu sehen: »Sie war zum Vernünftigsein gezwungen worden, als sie jung war, sie lernte das Romantischsein, als sie älter wurde – die natürliche Folge eines unnatürlichen Auftakts.« (S. 38)
Annes Vorgeschichte ist nichts weiter als eine »kleine Episode trauriger Zugetanheit« (S. 35) bemerkt die Erzählerstimme lapidar. Daß sich Austen aber durch diese »kleine Episode« diejenigen Elemente genommen hat, die ihre früheren Romanhandlungen getragen und strukturiert haben, hat für ›Persuasion‹ weitreichende Folgen. Viele Möglichkeiten, die Austen in früheren Romanen ausgeschöpft hat, entfallen, viele Wege sind versperrt: Auf die reizvolle Szene der ersten Begegnung zwischen Protagonistin und männlicher Hauptfigur (man denke an ›Stolz und Vorurteil‹) und viele ähnliche, spannungsgeladene Momente muß ›Persuasion‹ verzichten. Die Heldin ist nicht mehr jung und befindet sich daher in keiner typischen Schwellensituation, weder gesellschaftlich noch persönlich. Ihre Position als unverheiratete, aber finanziell abgesicherte Frau ist nicht brillant, aber sie ist gefestigt. Was ihre persönliche Reife und ihre Integrität angeht, so ist Anne schon zu Beginn des Romans so gut wie perfekt – »almost too good for me« kommentiert Jane Austen in einem Brief an ihre Nichte Fanny. Gesellschaftlicher Auf- oder Abstieg sowie das Erlangen von Erkenntnis kommen als handlungstragende Elemente ebenfalls nicht in Frage.
Damit hat Austen sich und den Plot ihres Romans vor ein zweifaches künstlerisches Problem gestellt: Zum einen gilt es, eine gereifte, »statische« Protagonistin darzustellen und lebendig zu machen; eine Heldin, die sich nicht wandelt, die kaum handelt, weil ihre Lebensumstände das nicht erlauben, die überdies kaum spricht, da ihr Wort ohnehin »kein Gewicht« (S. 10) hat. Zum anderen muß, der statischen Heldin zum Trotz, irgendeine Art von Handlung stattfinden, damit die Haupthandlung aus der schiefen Ausgangslage heraus doch noch in ein
happy ending
münden kann.
Was die Darstellung der Protagonistin angeht, so weist Austens Lösung dieses selbstgestellten künstlerischen Problems zweifelsohne in die Zukunft, auf diejenigen Romane des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts nämlich, die dieSubjektivität einer Figur zu einer Realität machen, vor der die äußere, objektive Realität verblaßt. Denn Anne Elliot hat ein so intensives Seelenleben, daß es beinahe den ganzen Roman trägt. Wie Austen solch eine intensive Subjektivität schafft, dafür ist die Szene der ersten Wiederbegegnung Annes und Captain Wentworths ein gutes Beispiel:
»Mary […] war hocherfreut, ihn zu empfangen, während auf Anne tausend Gefühle zugleich einstürmten, deren tröstlichstes war, daß es schnell vorbei sein würde. Und es war schnell vorbei. Nur zwei Minuten nach Charles’ Ankündigung erschienen die anderen; man stand im Salon. Ihr Blick begegnete halb dem seinen; eine Verneigung, ein Knicks; sie hörte seine Stimme – er sprach mit Mary, sagte alles, was sich schickte; machte eine Bemerkung zu den Miss Musgroves, die auf einen unbeschwerten Umgang hindeutete; das Zimmer schien voll – voll von Menschen und Stimmen – doch nach wenigen Minuten war es ausgestanden. Charles tauchte am Fenster auf, es war soweit, ihr Besucher verbeugte sich und war fort […]« (S. 70 f.)
Anne wird hier zunächst als das Medium gesetzt, durch dessen Wahrnehmung gefiltert der Leser die Szene erlebt; das parataktische Stakkato der Sätze, der Fokus auf nicht zusammenhängenden Gesten und Bewegungen innerhalb des Raumes, die Tatsache, daß nicht der Inhalt der Dialoge, sondern allein ihr Stattfinden als sinnloses Geräusch erfaßt ist, all dies signalisiert sodann die schmerzhafte Aufregung, in der Anne sich befindet, und macht sie dem Leser fühlbar.
Diese neue Intensität in der Darstellung seelischer Vorgänge scheint literaturgeschichtlich gesehen richtungsweisend, und sie macht wesentlich (um noch einmal mit Virginia Woolf zu sprechen) die »peculiar beauty«, die besondere und eigenartige Schönheit des Romans, aus. Gespiegelt werden seelische Vorgänge von einer besonderen atmosphärischen Dichte, die gegenüber Austens früheren Romanen ebenfalls neu ist und die Virginia Woolf als »peculiar dullness«, eigenartige Tristesse, bezeichnet. Diese Tristesse, der melancholische, herbstliche Ton von ›Persuasion‹ ist das Ergebnissorgfältiger Arbeit,
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