Anne Frasier
klein gewesen war, hatte er sich gern die Fingerabdrücke nehmen lassen. Max hatte eine ganze Schublade voll davon. »Meinem Sohn«, sagte er. »Sie gehören meinem Sohn.«
»Haben Sie diesen Jungen gesehen?« »Haben Sie diesen Jungen gesehen?«
Getrennt gingen Max und Ivy schnell von einem Händler zum nächsten und zeigten jedes Mal Ethans Schulfoto vor,
Es gab Hunderte von Verkäufern, und je länger sie sich ohne Ergebnis vorwärts arbeiteten, desto mehr nahm Max' Angst zu.
Schließlich nahm ein Mann mit Nasenring Ivy das Foto ab und starrte es an.
»Ja, den habe ich gesehen. Er hat ein My-Bloody-Valentine-Album von mir gekauft.«
»Max!« Ivy konnte ihr Herz in ihrem Bauch schlagen fühlen.
Lass mit ihm alles in Ordnung sein. Lass mit Max' Sohn alles in Ordnung sein.
Max wandte sich zu ihr um. Er ging seitlich, leicht rückwärts, quer durch die Menge, bis er neben ihr stand. »Sie haben ihn gesehen?«, fragte Max. »Wann?«
»Gestern. Gestern habe ich ihn ein paar Mal gesehen.«
»Haben Sie ihn heute gesehen?«
Der Verkäufer schüttelte den Kopf. Eine Frau tauchte auf und trat hinter den Tisch; sie ließ eine Ausgabe des Chicago Herald oben auf verpackte, sortierte CDs fallen. »Da ist deine Zeitung, Schatz.«
»Er war mit einem Typen unterwegs, der ein bisschen wie der hier aussah«, sagte der Verkäufer und zeigte auf die Skizze in der Zeitung.
Ivy glaubte, dass Max gleich ohnmächtig werden würde.
Er schwankte etwas, kniff die Augen zu, atmete mühsam ein, hob dann eine geballte Faust vor den Mund, als müsste er ein Schluchzen daran hindern, hörbar zu werden. So stand er ewig lange da.
Ivy packte ihn am Arm. »Kommen Sie, Max«, sagte sie leise. Er rührte sich nicht, also packte sie ihn mit beiden Händen, schüttelte ihn kräftig und sagte: »Max! Brechen Sie jetzt nicht zusammen. Nicht jetzt. Sie dürfen jetzt nicht zusammenklappen.«
Er ließ die Faust heruntersinken. Starrte Sie mit blutunterlaufenen Augen intensiv an, als musste er erst einmal herausfinden, wer sie war, was sie hier tat. Dann sah sie, wie er sie erkannte, sah, wie der Detective in dem Vater, der nicht mehr funktionierte, zum Leben erwachte. Er richtete sich auf. Seite an Seite verließen sie das Gebäude, liefen zum Wagen und fuhren zur Zentrale in Bereich fünf.
Sein Vater würde ihn finden, sagte sich Ethan. Sein Vater würde ihn finden, und wenn er das tat, dann würde er dem Typen, der ihm das angetan hatte, die Fresse polieren.
Er hatte Angst, und er hätte auch geweint, wenn sein Mund nicht mit Klebeband verklebt gewesen wäre. Er konnte seine Hände und seine Arme nicht mehr spüren; sie waren auf dem Rücken gefesselt. Er konnte auch seine Füße nicht mehr spüren, sie waren an den Knöcheln zusammengebunden. Sein Haar klebte an seinem Schädel, und er wusste, dass er geblutet hatte.
Er lag in einem dunklen Zimmer auf dem Boden. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier war, denn er war bewusstlos gewesen.
Dieses Arschloch hatte ihn k.o. geschlagen, hatte ihm auf die Birne gehauen.
Der Geruch.
Der Geruch war so schlimm, dass er immer wieder von innen gegen das Klebeband würgte. Was ihn so verängstigte, war, dass es genauso roch wie Max manchmal unter dem Zitronenshampoo.
Er versuchte zu beten, vergaß aber immer wieder die Worte. Er dachte an all die schrecklichen Geschichten, die er gehört hatte, nicht von seinem Vater, sondern von den anderen Polizisten auf der Wache. Ethan war gern dort gewesen, als er klein war. Er hatte sogar eine Polizeiuniform. Und dann setzten ihn manche Kollegen auf ihre Schreibtische, und er schwang mit seinen Beinchen hin und her und spielte an seiner Plastikmarke herum. Er fand, dass sie total echt aussah, er hielt sie für echt. Und wenn er eine unschuldige Frage stellte, dann beantworteten sie die Polizisten mit Geschichten, von denen er hoffte, dass sie erfunden waren. Er ging heim und hatte Albtraume, er fürchtete, dass jemand nachts kommen und ihn stehlen oder seine Leber herausschneiden und essen würde. Er hatte eine solche Angst, dass er seinen Vater bat, die ganze Nacht das Flurlicht brennen zu lassen.
Er konnte nicht aufhören, an diese Geschichten zu denken, von denen er geglaubt hatte, dass er sie mit seiner kleinen Polizei uniform und seiner kleinen Dienstmarke hinter sich gelassen hatte. Geschichten von Verbrechern, von bösen Menschen, die kein Gewissen hatten, die es liebten, Menschen leiden zu lassen, bevor sie sie schließlich erwürgten oder
Weitere Kostenlose Bücher