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Anne Frasier

Anne Frasier

Titel: Anne Frasier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marinchen
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Noten des Liedes verklangen. Jemand begann zu beten. Jemand anders begann, mit einer wilden, hohen Stimme zu klagen.
    Ivy hob den Kopf und versuchte herauszufinden, woher das klagende Jammern kam, aber die Stimmen hoben sich und sanken, als der Laut von Mensch zu Mensch getragen wurde, von Seele zu Seele.
    Ein Gefühl des Bösen durchflutete sie, ein schwarzes Loch ohne Reue, ohne Schuld. Auf ihren Armen kribbelte es, die
    Haare auf ihrem Kopf standen zu Berge, und die kalte Luft strich ihr über Wangen und Hals. Sie wollte sich bewegen, wollte fortlaufen und zurück in den Wagen steigen, in dem Max Irving mit seiner Videokamera saß. Aber ihre Füße fühlten sich an wie Blei, ihre Muskeln waren kraftlos.
    Und sie wusste mit überwältigender Sicherheit, dass der Mann, der ihr Baby getötet hatte, der Mann, der Sachi Anderson getötet hatte, irgendwo hier in dieser Menschenmenge war und sie beobachtete.
    Er hatte sie ausgetrickst, und plötzlich hatte sich etwas, das sie erdacht hatten, um ihn herzulocken, verwandelt in etwas, was er benutzte, um sich in aller Offenheit zu verbergen.
    Sie zwang sich, noch zehn Minuten zu bleiben, dann ging sie zurück zu den geparkten Wagen.
    Er sah sie davongehen.
    Ein bekanntes Gesicht. Das Gesicht aus der Zeitung. Das Gesicht, das jetzt in seinem Album steckte. Das Gesicht ohne Namen.
    Er achtete darauf, wohin sie ging, auf den Wagen, in den sie stieg, auf das Nummernschild. CR 427. Alle Zahlen waren wichtig.
    Als sie die Tür öffnete, ging das Deckenlicht nicht an. Was hieß, dass sie ein Bulle war. Sie stieg auf der Beifahrerseite ein. Was hieß, dass da drin noch ein Bulle saß. Detective Irving?
    Er informierte sich gern über die Ermittler und ihre Familien. Er wusste gern, was in ihrem Leben los war, er blieb auf dem Laufenden darüber, was sie mochten und nicht mochten. So könnte er mit ihnen ein Gespräch beginnen, wenn ihm je danach wäre.
    Er war zur Erstkommunion von Sinclairs Tochter gegangen, und er hatte Sinclairs Enkeltochter Kiki einen Teddybär geschickt.
    Er war von Natur aus neugierig, und er musste herausbekommen, wer diese Frau war.
    Er wandte sich wieder der Gedenkfeier zu. Sie war für ihn. Das wusste er.
    Dumme Leute. Dumme, dumme Leute.
    Sie waren alle seinetwegen hier. Die Bullen. Die Kerzen. Die Leute. Die traurigen, traurigen Leute. Seinetwegen. Wer sagte, dass ein einzelner Mensch keine Bedeutung hatte? Er hatte sie alle berührt. Jeden Einzelnen von ihnen.
    Huren, Huren, Huren. Sehr aufregend.
    Drecksjunge. Dreckiger Drecksjunge.
    Etwas beschäftigte ihn. Das Baby. Das Foto des Babys, das jemand auf das Grab gelegt hatte.
    Du hast ihn gerettet, sagte er sich. Gerettet! Beruhigt stimmte er in den Gesang ein.
    Ivy betrat den Raum der Einsatzgruppe, in dem die Mitglieder des Teams um einen Computerbildschirm herumstanden. Irving saß auf der Ecke eines Tisches, den er als seinen reklamiert hatte, einen Fuß auf dem Boden, den anderen frei in der Luft schwebend, sodass seine zerknitterte graue Hose weit genug hochgerutscht war, um eine braune Socke zu zeigen, auf die wohl jemand Bleiche geschüttet hatte.
    Ihr war, als wäre sie in die Einsatzgruppen-Variante interpretativen Theaters marschiert. Der Ton war aus, und Ramirez kommentierte die Videoaufnahme, die in der vergangenen Nacht entstanden war. Die Perspektive war ganz offensichtlich aus einem Auto heraus. Am unteren Rand des Bildschirms sah man die obere Rundung des Steuers.
    »O ja«, sagte Ramirez mit hoher, femininer Stimme. »Leg deine Hand da hin. Genau da.«
    Alle lachten, dann sagte jemand anders: »Friedhöfe machen mich an.«
    Wieder Gelächter.
    »Friedhöfe finde ich scharf.«
    Noch mehr Gelächter Dann entdeckte Hastings Ivy in der Tür. Ihr Lächeln verschwand. Einer nach dem anderen schauten die Polizisten hinter sich, um herauszufinden, wieso Hastings Gesichtsausdruck sich so verändert hatte.
    Sie behandelten sie wie eine alte Schulmeisterin. War sie wirklich so steif?
    So ernst?
    Vielleicht. Wahrscheinlich. Tatsächlich konnte Ivy sich kaum daran erinnern, dass sie gelacht hatte, ohne zugleich eine gewisse Trauer dabei zu empfinden. Diese jungen Polizisten konnten immer noch schallend lachen, denn obwohl sie ständig mit dem Bösen konfrontiert waren, hatte es sie noch nicht persönlich betroffen.
    »Hört meinetwegen nicht auf«, sagte sie.
    »Wir hatten bloß ein bisschen Spaß«, sagte Hastings; sie versuchte, die Stille zu füllen, die sie umgab.
    Ivy legte ihren Rucksack auf

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