Anne Frasier
Schaulustige.
»Ich glaube, er ist zu klug, um darauf hereinzufallen«, bemerkte Max.
»Egal. Er muss nicht darauf hereinfallen. Er weiß, dass die ganze Sache nur stattfindet, um ihn herzulocken. Aber mit Glück kann er nicht anders, als die Aufmerksamkeit zu genießen. Und da man ihn bisher nicht mit den Morden in Verbindung bringt, dürfte er sich einigermaßen sicher fühlen.«
»Er genießt seinen Ruhm.«
»Genau.«
»Sehen Sie jemand, der Ihnen auffällt?«
»Vielleicht den großen Typen da drüben, neben dem Baum, rechts von der Menge?«
Max kniff die Augen zusammen. »Scheiße. Das ist Carpenter. Ich hab ihm gesagt, er soll sich unter die Leute mischen, nicht dumm rumstehen. Er könnte genauso gut eine verfluchte Uniform tragen.«
»Zeit für mich, auf die Party zu gehen«, sagte Ivy, nahm den Blumenstrauß aus ihrem Schoß und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Warten Sie.«
Max fummelte am Wagenlicht herum, sodass es nicht anging, wenn sie die Tür öffnete.
Vorher schon hatten sie entschieden, dass Max im Auto bleiben sollte, da der Mörder sein Gesicht aus den Medien kennen dürfte. Und obwohl auch Ivys Bild in der Zeitung gewesen war, hatte man sie nicht mit Namen genannt: Sie konnte genauso gut eine Freundin oder Verwandte sein.
Ohne dass das Licht anging, stieg Ivy aus dem Auto. Sie fürchtete nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und warf die Tür schwungvoll hinter sich zu.
Die Nachtluft war feucht und schwer. Grillen zirpten, Glühwürmchen schwirrten um die Grabsteine herum. Als sie klein gewesen war, hatte Ivy in heißen Nächten im Bett gelegen und das Zirpen der Grillen draußen vor ihrem offenen Fenster gezählt, um zu erfahren, wie viele Jahre sie noch leben würde. Eigenartig, dass Kinder solche düsteren Spiele spielten. Wie viele ihrer Lieder und Spiele mit Tod und Gewalt zu tun hatten. Ob andere das wohl auch merkwürdig fanden?
Stick a needle in my eye.
If I die before I wake.
Blackbirds baked in a pie.
Pray to God my Soul to take.
Ashes, ashes, all fall down.
Three blind mice.
Am Morgen hatte es geregnet, und der Boden unter ihren quadratischen Absätzen gab nach, als sie über das Gras ging, in Richtung der weißen Flämmchen und geneigten Köpfe, in Richtung der gemurmelten Gebete.
Am Rande der Menge reichte ihr jemand eine brennende Kerze. Sie nahm sie und flüsterte ein Dankeschön, als sie einem Mann mittleren Alters ins Gesicht sah.
Bist du es?, fragte sie stumm und versuchte, sich das Gesicht einzuprägen, das sie im flackernden Kerzenlicht kaum erkennen konnte, das zudem schwarze Schatten über die Wangen, die Stirn tanzen ließ. Fingerspitzen berührten ihre, und sie sah hinunter, sie erwartete beinahe, Krallen statt Fingernägeln zu erblicken.
Zu dunkel.
Er lächelte traurig. Als sie sich abwandte, um zu gehen, löschte das Licht der Flamme plötzlich die Schatten aus und enthüllte Tränen in seinen Augen.
Nicht du, dachte sie.
Aber er wird nicht wie ein Monster aussehen, musste sie
sich vergegenwärtigen. Er sieht aus wie alle anderen. Er wäre fähig, zu weinen. Das war ja das, was die Leute nicht verstanden. Was man der Öffentlichkeit klarmachen musste
Sie mischte sich tiefer unter die singende Menge, ihre Lippen begannen, sich zu bewegen, ihre Stimme erinnerte sich an die Worte eines lang vergessenen Liedes, aus einer Zeit, in der sie in die Kirche gegangen war und gebetet hatte wie alle anderen.
Diese Narren, dachte sie mit traurigem Mitgefühl. Mit euren Christopherus-Anhängern und euren Rosenkränzen und dem Weihwasser. Wie viele von ihnen beteten nicht für Sachi und ihr Baby, sondern für sich selbst? Glaubten, wenn sie nur gut genug wären, oft genug beteten, lächelten, der Kirche den Zehnten spendeten, wären sie sicher vor dem Schrecken, der Sachi Anderson widerfahren war? Begriffen sie nicht, dass derselbe Gott, der sie erschaffen hatte, auch den Madonna-Mörder erschaffen hatte? Hatte nicht Jeffrey Dahmer genau so sein Töten gerechtfertigt? Indem er erklärte, Gort habe ihn eben zum Mörder gemacht? Er führe einfach nur Gottes Willen aus?
Der Duft der Erde aus den frischen Gräbern traf sie. Sie waren gekennzeichnet durch Fotos und Stofftiere und Körbe voll Blumen. Sie dachte an ein anderes kleines Grab auf einem anderen Friedhof in einem anderen Teil der Stadt, ein Grab, das sie nie besucht hatte ...
Ivy beugte sich herunter und legte ihre Blumen zu den anderen, dann richtete sie sich auf, als die letzten
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