Anne in Avonlea
durchsucht. Anne durchkämmte den Obstgarten und den Geisterwald, wobei sie immer wieder Doras Namen rief. Marilla nahm eine Kerze und durchforstete den Keller. Davy schloss sich abwechselnd mal der einen, mal der anderen an und nannte einfallsreich jede Menge Stellen, wo Dora stecken konnte. Schließlich fanden sie sich wieder im Hof ein.
»Ein Rätsel«, seufzte Marilla.
»Wo sie bloß steckt?«, sagte Anne elend.
»Vielleicht ist sie in den Brunnen gepurzelt«, meinte Davy fröhlich. Anne und Marilla sahen einander angsterfüllt an. Der Gedanke war ihnen während ihrer Suche auch durch den Kopf gegangen, aber keine von beiden hatte sich getraut ihn auszusprechen.
»Es... es wäre möglich«, flüsterte Marilla.
Anne, der ganz schwach zumute war, ging zum Brunnen und spähte über den Rand. Der Eimer stand innen auf dem Sims. Tief unten schimmerte schwach das unbewegte Wasser. Der Brunnen der Cuthberts war der tiefste von ganz Avonlea. Wenn Dora . . . aber Anne mochte sich das nicht ausmalen. Schaudernd wandte sie sich ab. »Lauf hinüber und hol Mr Harrison«, sagte Marilla händeringend.
»Mr Harrison und John Henry sind nicht da, sie sind heute in die Stadt gefahren. Ich hole Mr Barry.«
Anne kam zusammen mit Mr Barry wieder, der ein aufgerolltes Seil bei sich trug, an dem eine hakenähnliche Vorrichtung befestigt war, die einmal der Hauptbestandteil einer Hacke gewesen war. Marilla und Anne standen frierend und zitternd vor Entsetzen und Angst da, während Mr Barry den Brunnen absuchte. Davy, der rittlings auf dem Tor saß, betrachtete die drei mit einem Ausdruck größten Vergnügens.
Schließlich schüttelte Mr Barry erleichtert den Kopf.
»Da unten ist sie nicht. Aber es ist schon sehr rätselhaft, wohin sie verschwunden ist. He, junger Mann, weißt du wirklich nicht, wo deine Schwester steckt?«
»Ich habe schon x-mal gesagt, dass ich es nicht weiß«, sagte Davy mit gekränkter Miene. »Vielleicht ist ja ein Landstreicher vorbeigekommen und hat sie mitgenommen.«
»Unsinn«, sagte Marilla scharf, die sich von der panischen Angst, Dora könnte im Brunnen stecken, erholt hatte. »Anne, meinst du, sie könnte zu Mr Harrison hinübergelaufen sein? Seit du sie das eine Mal mitgenommen hast, hat sie dauernd von dem Papagei geredet.«
»Dora würde sich bestimmt nicht allein den weiten Weg bis dahin trauen, aber ich gehe nachsehen«, sagte Anne.
Niemand warf in dem Moment einen Blick auf Davy, sonst hätten sie einen entschiedenen Wandel in seinem Gesichtsausdruck bemerken können. Er glitt leise vom Tor und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Scheune.
Anne lief ohne große Hoffnung über die Felder zu Mr Harrisons Haus. Das Haus war verriegelt, die Fensterläden geschlossen. Es gab nirgends ein Lebenszeichen. Sie stand auf der Veranda und rief laut nach Dora.
Ginger in der Küche hinter ihr begann plötzlich wütend zu krächzen und zu fluchen. Aber zwischen dem Gekreische hörte Anne einen jämmerlichen Laut aus dem kleinen Gebäude auf dem Hof, das Mr Harrison als Geräteschuppen diente. Anne stürzte an die Tür, riegelte sie auf und nahm die tränenüberströmte Dora in die Arme. Sie saß einsam und verlassen auf einer umgedrehten Nagelkiste.
»Oh, Dora, Dora, wir haben solche Angst um dich gehabt! Wie kommst du hierher?«
»Davy und ich wollten Ginger besuchen«, schluchzte Dora, »aber das ging ja nicht. Davy hat ihn nur zum Kreischen gebracht, weil er mit dem Fuß gegen die Tür gestoßen hat. Dann hat mich Davy hier reingebracht, ist rausgerannt und hat die Tür verriegelt. Und ich war eingesperrt. Ich hab gerufen und gerufen, ich hatte solche Angst. Außerdem hab ich schrecklichen Hunger und friere so. Ich dachte schon, du würdest überhaupt nie kommen, Anne.«
»Davy?« Anne konnte nichts mehr sagen. Niedergeschlagen trug sie Dora nach Hause. Ihre Freude, dass sie Dora gesund und munter gefunden hatte, verging ihr vor Kummer über Davys Betragen. Davys plötzlichen Einfall, Dora einzusperren, konnte man ihm leicht verzeihen. Aber Davy hatte gelogen - hatte kaltblütig gelogen. Das war das Gemeine daran und Anne konnte nicht die Augen davor schließen. Vor bloßer Enttäuschung hätte sie sich hinsetzen und losheulen mögen. Sie hatte Davy wirklich lieb gewonnen - wie lieb, hatte sie bis zu diesem Augenblick nicht geahnt und es tat ihr unerträglich weh, feststellen zu müssen, dass er bewusst gelogen hatte.
Marilla hörte Anne in einem Schweigen zu, das nichts Gutes für
Weitere Kostenlose Bücher