Anne in Avonlea
»Normalerweise ist der November ein schrecklicher Monat - so als hätte das Jahr plötzlich gemerkt, dass es sich seinem Ende zuneigt, und als könnte es sich nur noch darüber grämen und weinen. Dieses Jahr wird mit Anstand alt - wie eine stattliche alte Dame, die weiß, dass sie auch mit grauen Haaren und Runzeln anmutig sein kann. Es waren wunderschöne Tage mit herrlichen Abenddämmerungen. Die letzten vierzehn Tage waren so friedlich und auch Davy hat sich alles in allem ganz manierlich benommen. Er hat sich wirklich gebessert. Wie ruhig es heute im Wald ist -nicht einmal ein Rauschen, bis auf den sanften Wind, der durch die Baumwipfel streicht! Es klingt wie die Brandung an einem fernen Strand. Wie herrlich die Bäume doch sind! Ihr schönen Bäume! Ihr seid wie Freunde.«
Anne blieb stehen, um den Arm um eine schlanke junge Birke zu legen und ihren cremeweißen Stamm zu küssen. Diana, die um die Wegbiegung kam, sah sie und lachte.
»Anne Shirley, du tust doch nur so, als seist du erwachsen. Ich glaube, wenn du allein bist, bist du noch immer wie ein kleines Mädchen.«
»Tja, man kann die Gewohnheit, ein kleines Mädchen zu sein, nicht von heute auf morgen ablegen«, sagte Anne fröhlich. »Verstehst du, ich war vierzehn Jahre lang klein, erst seit drei Jahren werde ich langsam erwachsen. Im Wald werde ich mich bestimmt immer wie ein Kind fühlen. Diese Wanderungen von der Schule nach Hause - das ist fast die einzige Zeit, die mir zum Träumen bleibt, bis auf die halbe Stunde oder so vor dem Schlafengehen. Ich bin so beschäftigt mit Unterrichten, Lernen und Marilla mit den Zwillingen helfen, dass das der einzige Augenblick ist, um meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Du ahnst nicht, was für herrliche Abenteuer ich jeden Abend nach dem Zubettgehen oben im Ostgiebel erlebe. Ich stelle mir immer vor, ich wäre eine herausragende, erfolgreiche, berühmte Persönlichkeit - eine großartige Primadonna, eine Rot-Kreuz-Schwester oder eine Königin. Gestern Abend war ich eine Königin. Man hat seinen Spaß ohne irgendwelche Unannehmlichkeiten zu haben. Man kann aufhören eine Königin zu sein, wann immer man will, was man im wirklichen Leben nicht könnte. Aber hier im Wald stelle ich mir am liebsten ganz andere Dinge vor - ich bin eine Dryade, die in einer alten Kiefer wohnt, oder eine kleine braune Waldelfe, die sich unter einem raschelnden Laubblatt versteckt. Diese weiße Birke, der ich einen Kuss gegeben habe, ist meine Schwester. Der einzige Unterschied ist, dass sie ein Baum ist und ich ein Mädchen, aber das macht eigentlich keinen Unterschied. Wohin gehst du, Diana?«
»Zu den Dickinsons. Ich habe Alberta versprochen, ihr beim Zuschneiden ihres neuen Kleides zu helfen. Kannst du nicht heute Abend hinkommen und mit mir zusammen nach Hause gehen, Anne?«
»Kann ich - jetzt wo Fred Wright unten in der Stadt ist«, sagte Anne mit fast übertrieben unschuldiger Miene.
Diana wurde rot, warf den Kopf in den Nacken und ging weiter. Sie sah jedoch nicht beleidigt aus.
Anne hatte fest vor, an dem Abend zu den Dickinson zu gehen, aber daraus wurde nichts. Als sie auf Green Gables ankam, fand sie eine Situation vor, die jeden Gedanken daran aus ihrem Kopf verbannte. Marilla kam ihr mit wildem Blick auf dem Hof entgegen.
»Anne, Dora ist verschwunden!«
»Dora! Verschwunden!« Anne musterte Davy, der auf dem Hoftor hin und her schwang, und sah den Schalk in seinen Augen. »Davy, weißt du, wo sie ist?«
»Nein, keine Ahnung«, sagte Davy fest. »Ich habe sie seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen, Ehrenwort.«
»Ich war seit ein Uhr weg«, sagte Marilla. »Thomas Lynde ist plötzlich krank geworden. Rachel bat mich sofort zu kommen. Als ich fortging, hat Dora mit der Puppe in der Küche gespielt. Davy hat hinter der Scheune Matschkuchen gebacken. Ich bin erst vor einer halben Stunde zurückgekommen - und weit und breit keine Dora. Davy behauptet, er hätte sie nicht mehr gesehen, seit ich weggegangen bin.«
»Hab ich auch nicht«, erklärte Davy ernst.
»Sie muss irgendwo hier in der Nähe sein«, sagte Anne. »Allein würde sie nie und nimmer weit Weggehen, so ängstlich, wie sie ist. Vielleicht ist sie in einem der Zimmer eingeschlafen.«
Marilla schüttelte den Kopf.
»Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Aber vielleicht ist sie irgendwo in der Scheune.«
Sie suchten gründlich alles ab. Jeder Winkel in Haus, Hof und Scheunen wurde von den beiden, die schrecklich beunruhigt waren,
Weitere Kostenlose Bücher