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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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will nicht zu hart mit dem Kind verfahren«, sagte Marilla. »Gewiss hat ihm bisher noch kein Mensch gesagt, dass man nicht lügen darf. Diese Sprott-Kinder waren nicht der richtige Umgang für ihn. Die gute Mary war zu krank, um ihn richtig zu erziehen. Von einem sechs Jahre alten Kind kann man wohl nicht erwarten, dass es solche Sachen instinktiv weiß. Wir müssen wohl einfach davon ausgehen, dass er nichts wirklich weiß, und ganz von vorn beginnen. Aber er muss eine Strafe dafür bekommen, dass er Dora eingesperrt hat. Ich weiß mir da keinen anderen Rat, als ihn wie schon so oft ohne Essen ins Bett zu schicken. Oder fällt dir etwas anderes ein, Anne? Eigentlich müsste es das, bei deiner Phantasie.«
    »Strafen sind was Scheußliches und ich stelle mir lieber nur schöne Dinge vor«, sagte Anne und drückte Davy an sich. »Es gibt ohnehin schon so viele unschöne Dinge auf der Welt, dass man nicht auch noch welche dazuerfinden muss.«
    Zu guter Letzt wurde Davy wie üblich bis zum nächsten Mittag ins Bett geschickt. Allem Anschein nach hatte er über einiges nachgedacht, denn als Anne etwas später hinaus in ihr Zimmer trat, saß er aufrecht im Bett, die Ellbogen auf die Knie gelegt und das Kinn auf die Hände gestützt.
    »Anne«, sagte er ernsthaft, »darf niemand schwin ... lügen? Das will ich wissen.«
    »Nein.«
    »Ein Erwachsener auch nicht?«
    »Nein.«
    »Dann«, sagte Davy bestimmt, »ist Marilla ein schlechter Mensch, weil sie lügt. Sie ist noch schlimmer als ich, weil ich nicht wusste, dass man das nicht darf, aber sie weiß es.«
    »Davy Keith, Marilla hat ihr Lebtag noch keine Lügengeschichten erzählt«, sagte Anne entrüstet.
    »Doch. Letzten Dienstag hat sie zu mir gesagt, dass mir ein Unglück zustoßen würde, wenn ich nicht jeden Abend bete. Das hab ich seit über einer Woche nicht mehr getan, nur um herauszufinden, was passieren würde - und nichts ist passiert«, schloss Davy anklagend. Anne hätte am liebsten losgelacht, unterdrückte es jedoch in dem Wissen, dass ein Lachen verhängnisvoll gewesen wäre. Dann machte sie sich ernsthaft daran, Marillas Ruf zu retten.
    »Wieso, Davy Keith«, sagte sie ernst, »an eben diesem Tag ist dir doch etwas Schreckliches passiert.«
    Davy schaute skeptisch.
    »Du meinst, weil ich ohne Essen ins Bett geschickt wurde?«, sagte er spöttisch. »Das ist nicht schrecklich. Klar, es passt mir nicht, aber ich wurde schon so oft ins Bett geschickt, seit ich hier bin, dass ich mich langsam daran gewöhne. Und sparen tut ihr dadurch auch nichts, weil ich zum Frühstück immer doppelt so viel esse.«
    »Dass du ins Bett geschickt wurdest, meine ich nicht. Ich meine deine Lüge. Und Davy?«, Anne lehnte sich über das Fußende des Bettes und drohte dem Übeltäter mit dem Finger, »wenn ein Junge Lügengeschichten erzählt, ist das fast das Schlimmste, was passieren kann, fast das Allerschlimmste. Du siehst also, Marilla hat die Wahrheit gesagt.«
    »Aber ich dachte, das Schlimme wäre aufregend«, sagte Davy beleidigt.
    »Marilla hat keine Schuld an dem, was du denkst. Schlimme Dinge sind nicht immer aufregend. Sie sind meist nur hässlich und dumm.«
    »Es war aber schrecklich lustig mit anzusehen, wie du und Marilla in den Brunnen geschaut habt«, sagte Davy und umfasste seine Knie. Anne verzog keine Miene — erst als sie unten war und sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen ließ, lachte sie, bis sie Seitenstechen bekam.
    »Was gibt es zu lachen?«, sagte Marilla ein wenig grimmig. »Ich habe heute noch nicht viel zu lachen gehabt.«
    »Wenn du das hörst, wirst du lachen«, versicherte Anne. Und Marilla lachte, was zeigte, welche Fortschritte sie seit Annes Adoption gemacht hatte. Aber gleich darauf seufzte sie.
    »Ich hätte das besser nicht zu ihm gesagt, auch wenn ich mal gehört habe, wie ein Pfarrer es zu einem Kind sagte. Aber er hat mich so geärgert. Es war an dem Abend, an dem du im Konzert in Carmody warst und ich Davy ins Bett gebracht habe. Er sagte, er sehe im Beten keinen Sinn, bis er so groß wäre, dass er für Gott von einer Wichtigkeit wäre. Anne, ich weiß nicht, was wir mit diesem Kind anstellen sollen. Er übersteigt alles, was ich bisher kenne. Ich bin schlichtweg verzweifelt.«
    »Oh, sag so was nicht, Marilla. Erinnere dich nur einmal daran, wie schlimm ich war, als ich hierher kam.«
    »Anne, du warst nicht schlimm, niemals. Das wird mir jetzt klar, wo ich sehe, was schlimm heißt. Du hast dich dauernd in die Nesseln gesetzt,

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