Anne in Avonlea
ausrichten ließ, dass er in die Stadt führe und ihnen die Farbe besorgen könnte, sagten sie zu Andrew, er solle seinem Vater ausrichten, es handle sich um die Nummer 147. John Andrew behauptete steif und fest, genau das hätte er ihm ausgerichtet, aber Mr Roger Pye erklärte ebenso steif und fest, John Andrew hätte ihm die Nummer 157 genannt; und das ist der Stand der Dinge bis heute.«
An jenem Abend herrschte in allen Häusern, in denen ein Verschönerer wohnte, blankes Entsetzen. Auf Green Gables herrschte so düstere Stimmung, dass sogar Davy davon berührt war. Anne weinte und war untröstlich.
»Ich kann nicht anders, auch wenn ich bald siebzehn bin, Marilla«, schluchzte sie. »Diese Demütigung! Es ertönt das Grabgeläut unseres Vereins - und dann das vernichtende Gelächter!«
Im Leben jedoch, wie in Träumen, kehrt sich oft etwas ins Gegenteil. Die Bewohner von Avonlea lachten nicht, dazu waren sie viel zu verärgert. Ihr Geld war für das Streichen des Saals gedacht gewesen, also waren sie auch mächtig entrüstet über den Fehler. Die allgemeine Empörung richtete sich gegen die Pyes. Bei Roger Pye und John Andrew lag der Fehler. Und was Joshua Pye anging, er musste ein geborener Narr sein, dass er nicht darauf kam, dass da etwas nicht stimmte, als er die Farbtöpfe öffnete und die Farbe sah. Joshua Pye, um das noch festzustellen, hielt dem entgegen, dass der Farbgeschmack der Leute von Avonlea ihn nichts anginge, seine private Meinung hin oder her. Er sei mit dem Streichen des Saals beauftragt worden und nicht, um darüber seine Meinung abzugeben. Er bestehe darauf, dafür sein Geld zu bekommen.
Die Mitglieder zahlten ihm voll Bitterkeit das Geld, nachdem sie Mr Peter Sloane, der Richter war, um Rat gefragt hatten.
»Ihr müsst ihn bezahlen«, sagte Peter. »Ihr könnt ihn nicht für den Fehler verantwortlich machen, weil er behauptet, man hätte ihm nicht gesagt, in welcher Farbe der Saal gestrichen werden solle. Man hätte ihm nur die Farbtöpfe überreicht und gesagt, er solle sich an die Arbeit machen.«
Die unglücklichen Verschönerer erwarteten, dass ganz Avonlea mehr denn je Vorurteile gegen sie hegen würden. Aber stattdessen standen alle auf ihrer Seite. Die Leute fanden, dass der eifrigen, begeisterten kleinen Gruppe, die sich so für die Sache eingesetzt hatte, übel mitgespielt worden war. Mrs Lynde spornte sie an weiterzumachen und den Pyes zu zeigen, dass es auf der Welt noch Menschen gab, die keinen Pfusch betrieben. Mr Major Spencer teilte ihnen mit, dass er sämtliche Baumstümpfe entlang der Straße vor seiner Farm ausreißen und auf eigene Kosten dort Gras aussäen würde. Mrs Hiram Sloane kam eines Tages bei der Schule vorbei und winkte Anne wichtigtuerisch hinaus auf die Veranda, um ihr zu sagen, dass, wenn der Verein im Frühling an der Kreuzung ein Geranienbeet anlegen wolle, sie sich wegen ihrer Kuh keine Gedanken machen müssten. Sie würde dafür sorgen und das plündernde Tier im Zaum halten. Sogar Mr Harrison lachte und zeigte vollste Sympathie.
»Mach dir nichts draus, Anne. Die meisten Farben verblassen und werden von Jahr zu Jahr hässlicher, aber dieses Blau ist von vornherein so hässlich wie irgendwas, also kann es nur schöner werden. Und das Dach ist doch ganz ordentlich gedeckt. Die Leute können sich jetzt im Saal aufhalten, ohne dass ihnen Wasser auf den Kopf tropft. Ihr habt also schon eine ganze Menge zuwege gebracht.«
»Aber der blaue Saal von Avonlea wird in sämtlichen Nachbarorten zum Gespött der Leute werden«, sagte Anne verbittert.
Und genauso war es.
10 - Davy auf der Suche nach einem Abenteuer
An einem Novembernachmittag, als Anne auf dem Nachhauseweg von der Schule den Birkenpfad entlangging, hatte sie wieder einmal das Gefühl, dass das Leben herrlich war. Es war ein erfreulicher Tag gewesen; in ihrem kleinen Königreich war alles gut verlaufen. St. Claire Donnell hatte sich nicht mit einem anderen Jungen wegen seines Namens angelegt; Prillie Rogersons Gesicht war vor Zahnweh so geschwollen, dass sie nicht ein einziges Mal den Versuch unternahm, den Jungen in ihrer Nähe kokette Blicke zuzuwerfen. Barbara Shaw war lediglich ein Missgeschick passiert - indem sie ein wenig Wasser auf dem Boden verschüttete — und Anthony Pye war nicht in der Schule gewesen.
»Was für ein schöner Monat dieser November war!«, sagte Anne, die noch immer nicht ihre kindliche Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen, überwunden hatte.
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