Anne in Avonlea
manche behaupteten alle Finger - in jeder politischen Angelegenheit, die gerade ausgekocht wurde. Da Kanada am Abend vor der Wahl stand, war Jerry Corcoran ein seit Wochen viel beschäftigter Mann gewesen, der auf Stimmenwerbung für die Kandidaten seiner Partei durch den Wahlkreis gezogen war.
Als Anne eben unter den überhängenden Buchenzweigen hervor auftauchte, hörte sie Corcoran sagen:»Wenn Sie Amesbury wählen, Parker ... na ja, dann hätte ich da noch ein Scheinchen für die Eggen, die Sie im Frühjahr bekommen haben. Sie hätten doch nichts dagegen, das Geld zurückzubekommen, was?«
»Hm... tja, wenn Sie das so sehen«, sagte Judson gedehnt und mit einem Grinsen, »das ließe sich schon machen, ln diesen schlechten Zeiten muss man sehen, wo man bleibt.«
In diesem Augenblick sahen sie Anne und die Unterhaltung endete abrupt. Anne grüßte kühl, ging weiter und streckte das Kinn noch weiter vor als sonst. Bald überholte Judson Parker sie.
»Willst du mitfahren, Anne?«, fragte er freundlich.
»Danke, nein«, erwiderte Anne höflich, aber mit einer feinen Verachtung in der Stimme, die selbst den nicht sehr empfindsamen Judson Parker wie Nadelstiche traf. Er wurde rot und drehte wütend die Zügel in den Händen. Aber im nächsten Augenblick besann er sich eines anderen. Er sah Anne beunruhigt an, wie sie weiterging und nicht nach links und nach rechts schaute. Hatte sie Corcorans unmissverständliches Angebot und sein allzu bereites Eingehen darauf gehört? Zum Teufel mit diesem Corcoran! Wenn er seine Absichten nicht in weniger gefährliche Worte kleiden konnte, würde er über kurz oder lang noch Ärger bekommen. Und zum Teufel mit rothaarigen Lehrerinnen, die aus Buchenwäldern auftauchen, in denen sie nichts zu suchen hatten. Wenn Anne es gehört hatte, so jedenfalls glaubte Judson Parker, der andere Leute nach seinen eigenen Maßstäben beurteilte, würde sie es überall herum erzählen. Nun, Judson Parker gab, wie sich gezeigt hat, nicht übermäßig viel auf die öffentliche Meinung. Aber als jemand dazustehen, der Bestechungsgeld angenommen hatte, wäre eine höchst unangenehme Sache. Und wenn es je Isaac Spencer zu Ohren kam, dann ade mit all den Hoffnungen auf Louisa Jane und ihren beruhigenden Einkünften als Erbin eines wohlhabenden Farmers. Judson Parker wusste, dass Mr Spencer ihn ohnehin etwas misstrauisch beäugte. Er konnte es sich nicht leisten ein Risiko einzugehen.
»Ähm ... Anne, ich hatte dich sowieso noch aufsuchen wollen wegen dieser Sache, über die wir neulich gesprochen haben. Ich habe mich nun doch entschieden, den Zaun der Firma nicht zur Verfügung zu stellen. Einen Verein mit Zielen, wie ihr sie verfolgt, sollte man unterstützen.«
Anne ließ sich überhaupt nicht aus der Reserve locken.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Und . . . und ... du brauchst diese kleine Unterhaltung mit Jerry ja nicht laut werden zu lassen.«
»Das habe ich nicht vor«, sagte Anne eisig, denn eher hätte sie sämtliche Zäune von Avonlea mit Reklame bemalen lassen, als sich auf einen Handel mit einem Mann, der seine Stimme verkaufte, einzulassen.
»Recht so . . . recht so«, stimmtejudson zu und fand, dass sie einander bestens verstanden. »Das hätte ich von dir auch nicht angenommen. Natürlich habe ich Jerry nur an der Nase herumgeführt - er hält sich für verteufelt klug und gescheit. Ich denke nicht daran, für Amesbury zu stimmen. Ich wähle wie immer Grant - das kannst du bei der Wahl selbst feststellen. Ich habe Jerry nur dazu verlockt, um zu sehen, ob er tatsächlich so weit geht. Und das mit dem Zaun geht so in Ordnung ... du kannst es den Verschönerern ausrichten.«
»Es gibt eben alle möglichen Sorten von Menschen auf der Welt, wie man so schön sagt, aber manche könnte man entbehren«, sagte Anne an dem Abend im Ostgiebel zu sich im Spiegel. »Ich hätte die schändliche Sache sowieso keiner Menschenseele gegenüber erwähnt, also habe ich in dem Punkt ein reines Gewissen. Ich weiß wirklich nicht, wem oder was sein Sinneswandel zu verdanken ist. Ich jedenfalls habe ihn nicht bewerkstelligt und es ist kaum anzunehmen, dass bei Politikern wiejudson Parker und Jerry Corcoran Gott seine Hände im Spiel hat.«
15 - Ferienbeginn
An einem ruhigen, strahlendhellen Nachmittag schloss Anne die Schultür zu. Der Wind summte in den Fichten auf dem Schulhof und die Bäume am Waldrand warfen lange, unbewegte Schatten. Sie steckte den Schlüssel mit einem zufriedenen Seufzer in die
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