Anne in Avonlea
könnten wir einen Blick in die Speisekammer werfen und vielleicht die Servierplatte sehen. Meinst du, das wäre schlimm?«
»Nein, das glaube ich nicht«, entschied Anne nach reiflicher Überlegung. »Wir tun es ja nicht aus bloßer Neugier.«
Nachdem dieser wichtige ethische Grundsatz geklärt war, machte Anne sich bereit, das besagte »kleine Haus« hinaufzuklettern. Es war aus Latten gezimmert, hatte ein spitz zulaufendes Dach und hatte früher als Entenstall gedient. Die Copp-Fräuleins hielten keine Enten mehr-»weil Enten furchtbar viel Dreck machen«. Seit einigen Jahren war es nicht mehr in Gebrauch, außer als Unterkunft für Hühner, die dort ihre Gelege hatten. Es war zwar tadellos weiß gestrichen, aber es schwankte ziemlich. Anne spürte unsicheren Boden unter den Füßen, als sie von einem günstigen Punkt aus, einem Fass auf einer Kiste, hinaufkletterte.
»Ich fürchte, es hält mein Gewicht nicht«, sagte sie, als sie vorsichtig auf das Dach stieg.
»Lehn dich aufs Fensterbrett«, empfahl Diana. Anne folgte dem Rat.
Zu ihrer großen Freude entdeckte sie, als sie durch die Scheibe spähte, auf einem Regal am Fenster eine Servierplatte, genau so eine, wie sie suchte - da brach die Katastrophe herein. Vor lauter Freude achtete Anne nicht auf den wackligen Stand unter den Füßen, lehnte sich unvorsichtigerweise nicht auf das Fensterbrett und machte vor Wonne aufgeregt einen kleinen Hopser - und im nächsten Augenblick war sie bis zu den Achselhöhlen durch das Dach gekracht. Da hing sie, außer Stande, sich selbst zu befreien. Diana stürzte in den Entenstall, packte ihre unglückliche Freundin an der Taille und versuchte sie herunterzuziehen.
»Au . . . nicht! Die Splitter!!«, schrie die arme Anne vor Schmerzen. »Die bohren sich durchs Kleid. Sieh nach und stelle etwas unter meine Füße. Vielleicht kann ich mich dann selbst hochziehen.«
Diana zog schnell das besagte Fass herein. Anne stellte fest, dass es gerade eben hoch genug war, dass sie festen Halt unter den Füßen hatte.
»Kann ich dich herausziehen, wenn ich darauf steige?«, schlug Diana vor.
Anne schüttelte hoffnungslos den Kopf.
»Nein, die Splitter tun zu weh. Aber wenn du eine Axt findest, kannst du mich vielleicht herausschlagen. Oh, Diana, ich glaube langsam wirklich, dass ich unter einem schlechten Stern geboren wurde.« Diana suchte gewissenhaft, aber es ließ sich keine Axt auftreiben. »Ich muss Hilfe holen«, sagte sie, als sie zu der Gefangenen zurückkehrte.
»Nein, das tust du nicht«, sagte Anne heftig. »Dann erfährt alle Welt die Geschichte und ich kann mich nirgends mehr blicken lassen. Nein, wir müssen warten, bis die Copp-Fräuleins nach Hause kommen und sie zur Verschwiegenheit verpflichten. Sie wissen, wo die Axt ist, und werden mich befreien. Solange ich mich nicht rühre, ist es gar nicht so schlimm ... tut es nicht so schlimm weh, meine ich. Auf wie viel die Copp-Fräuleins dies Haus wohl schätzen. Ich werde für den Schaden aufkommen müssen. Aber das macht mir nichts aus, wenn ich nur sicher wäre, dass sie Verständnis dafür haben, dass ich in ihr Speisekammerfenster gelugt habe. Mein einziger Trost ist, dass die Servierplatte genau die Sorte ist, die ich suche. Wenn Miss Copp sie mir verkauft, finde ich mich mit dem anderen schon ab.«
»Was, wenn die Copp-Fräuleins erst heute Abend zurückkommen .. . oder morgen?«, fragte Diana.
»Wenn sie bis Anbruch der Dunkelheit nicht zurück sind, musst du wohl jemand anderes zur Hilfe holen«, sagte Anne widerstrebend. »Aber erst, wenn uns nichts anderes übrigbleibt. Oh, ist das eine missliche Lage. Mir würden meine Missgeschicke nicht so viel ausmachen, wenn sie romantisch wären oder so wie bei Mrs Morgans Heldinnen, aber sie sind einfach nur lächerlich. Stell dir vor, was die Copp-Fräuleins sagen werden, wenn sie in den Hof fahren und einen Mädchenkopf aus dem Dach ihres Schuppens ragen sehen. Horch mal... ist das nicht eine Kutsche? Nein, Diana, es ist Donner.« Ohne jeden Zweifel, es war Donner. Diana ging schnell einmal ums Haus, kam wieder und verkündete, dass von Nordwesten her sehr schnell eine tiefschwarze Wolke herankam.
»Ich glaube, es gibt einen heftigen Gewitterschauer«, rief sie entsetzt. »Oh, Anne, was sollen wir tun?«
»Wir müssen Vorbereitungen treffen«, sagte Anne ruhig. Im Vergleich zu dem, was bereits geschehen war, schien ein Gewitterschauer eine Lappalie. »Pferd und Wagen stellst du am besten in den offenen
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