Anne in Avonlea
Schuppen. Ein Glück, in der Kutsche liegt mein Sonnenschirm. Hier, nimm meinen Hut. Marilla hat gesagt, ich wäre ein Esel, für den Besuch in der Tory-Straße meinen besten Hut aufzusetzen. Und wie immer hatte sie Recht.«
Diana band das Pferd los und fuhr genau in dem Augenblick in den Schuppen, als die ersten dicken Tropfen fielen. Da saß sie nun und betrachtete den einsetzenden heftigen Regenguss, durch den hindurch sie Anne kaum sehen konnte, die sich tapfer den Sonnenschirm über den Kopf hielt. Es war nur ein kurzes Gewitter, aber fast eine Stunde lang regnete es munter vor sich hin. Gelegentlich hielt Anne den Sonnenschirm schräg und winkte ihrer Freundin aufmunternd zu. Aber eine Unterhaltung war bei der Entfernung und unter den Umständen unmöglich. Endlich hörte es auf zu regnen, die Sonne kam zum Vorschein. Diana wagte sich über die Pfützen auf dem Hof.
»Bist du sehr nass geworden?«, fragte sie besorgt.
»1 wo«, erwiderte Anne fröhlich. »Kopf und Schultern sind halbwegs trocken und mein Kleid ist nur an den Stellen etwas nass, wo der Regen durch die Latten getropft ist. Du brauchst mich nicht zu bemitleiden. Diana, mir hat es überhaupt nichts ausgemacht. Ich habe die ganze Zeit über daran gedacht, wie gut der Regen tut und wie mein Garten sich darüber freut. Ich habe mir vorgestellt, was die Blumen wohl gedacht haben, als die ersten Tropfen fielen. Ich habe mir eine höchst interessante Unterhaltung zwischen den Astern, den Wicken, den wilden Kanarienvögeln im Fliederbusch und den Geisterwächtern des Gartens ausgemalt. Zu Hause will ich es gleich aufschreiben. Hätte ich nur jetzt Stift und Papier zur Hand, weil ich die schönsten Passagen bestimmt wieder vergessen habe, bis ich zu Hause ankomme.«
Diana, gewissenhaft wie sie war, hatte einen Stift dabei und entdeckte im Wagenkasten ein Stück Packpapier. Anne klappte den tropfenden Sonnenschirm zusammen, setzte ihren Hut auf, breitete das Papier auf einem Dachziegel aus, den Diana ihr hochreichte, und schrieb ihr idyllisches Gartengedicht auf, unter Bedingungen, die kaum als der Literatur förderlich zu bezeichnen waren. Nichtsdestotrotz war das Ergebnis durchaus hübsch. Diana war »entzückt«, als Anne es ihr vorlas.
»Oh, Anne, es ist hübsch, einfach hübsch. Du musst es unbedingt an die Kanadische Frau schicken.«
Anne schüttelte den Kopf.
»O nein, es würde sich ganz und gar nicht eignen. Es enthält keine Handlung. Es ist nur eine Aneinanderreihung von Gedanken. Ich schreibe gern so etwas, aber es eignet sich natürlich nicht, um es zu veröffentlichen. Verleger wollen eine Handlung, das sagte Priscilla jedenfalls. Oh, da ist Miss Sarah Copp. Bitte, Diana, geh hin und erkläre es ihr.«
Miss Sarah Copp war klein von Statur, trug abgetragene schwarze Kleider und einen Hut, den sie weniger der eitlen Zier als der Qualität wegen ausgesucht hatte. Sie sah erwartungsgemäß sehr verwundert drein, als sie den seltsamen Anblick auf dem Hof gewahrte. Aber nachdem Diana ihr alles erklärt hatte, zeigte sie volles Verständnis. Schnell schloss sie die hintere Tür auf, brachte eine Axt zum Vorschein und befreite Anne mit ein paar gekonnten Hieben. Anne, ziemlich erschöpft und steif, tauchte in das Innere ihres Gefängnisses hinab und sah sich noch einmal dankbar in die Freiheit entkommen. »Miss Copp«, sagte sie ernst, »ich schwöre, ich habe nur deshalb einen Blick in Ihre Speisekammer geworfen, um zu sehen, ob Sie eine Servierplatte haben. Sonst habe ich nichts gesehen - nach etwas anderem habe ich überhaupt nicht Ausschau gehalten.«
»Oh, ist schon in Ordnung«, sagte Miss Sarah liebenswürdig. »Mach dir keine Gedanken - es ist ja weiter kein Schaden angerichtet worden. Gott sei Dank können wir Copps unsere Speisekammer jederzeit und jedem vorzeigen. Und was diesen alten Entenstall betrifft, bin ich froh, dass er eingekracht ist. Jetzt hat Martha vielleicht nichts mehr dagegen, ihn abzureißen. Vorher wäre sie nie und nimmer damit einverstanden gewesen aus Angst, er käme uns vielleicht irgendwann einmal noch zustatten, jedes Frühjahr musste ich ihn streichen. Aber man kann genauso gut mit einem Pfahl streiten wie mit Martha. Sie ist in der Stadt, ich habe sie zum Bahnhof gefahren. Du willst also meine Servierplatte kaufen. Hm, wieviel willst du denn dafür geben?«
»Zwanzig Dollar«, sagte Anne, die es in puncto Geschäftstüchtigkeit nicht mit einer Copp aufnehmen konnte, sonst hätte sie nicht gleich ihren
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