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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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aufgeregt in Priscillas Zimmer gestürzt. »Lies das mal«, rief sie und warf Priscilla einen Brief hin. »Er ist von Stella - sie will nächstes Jahr auch aufs Redmond gehen - wie findest du ihre Idee? Ich finde sie glänzend, wenn wir sie nur in die Tat umsetzen könnten. Meinst du, es klappt, Pris?«
    »Das kann ich dir sagen, wenn ich weiß, worum es sich dreht«, sagte Priscilla, legte ein Griechisch-Lexikon beiseite und nahm Stellas Brief zur Hand. Stella Maynard zählte zu ihren Freundinnen am Queen’s, und sie unterrichtete seitdem.
    »Aber ich höre jetzt damit auf, liebe Anne«, schrieb Stella, »und werde im nächsten Sommer aufs College gehen. Da ich das dritte Jahr am Queen’s absolviert habe, kann ich mit dem zweiten Semester beginnen. Ich habe es satt, an einer Schule auf dem Lande zu unterrichten. Ich könnte ein Buch über >Die Probleme einer Lehrerin auf dem flachen Lande< schreiben. So sieht nämlich die Realität aus: Der größte Teil der Leute hier ist der Meinung, wir hätten ja ständig Ferien und täten nichts anderes, als regelmäßig unser Gehalt zu kassieren. Wieso soll ich nicht, wo nicht eine Woche vergeht, ohne dass jemand zu mir sagt, dass ich für eine leichte Arbeit sowieso nur ein dickes Gehalt beziehe, sofort und auf der Stelle meine Sachen packen? >Na ja, Sie verdienen Ihr Geld doch im Schlaf, kriege ich von einigen Steuerzahlern immer wieder zu hören. >Sie brauchen doch nur dazusitzen und die Hausaufgaben abzufragen.< Zuerst habe ich mich mit den Leuten angelegt, aber ich habe dazugelernt. Es ist hoffnungslos, gegen Vorurteile anzukämpfen. Also lächle ich jetzt nur noch beredt. Dabei ist der Unterricht kein Vergnügen. An der Schule sind neun Jahrgänge, also muss ich von allem etwas unterrichten - vom Innenleben eines Regenwurms bis zum Sonnensystem. Mein jüngster Schüler ist ganze vier Jahre alt - seine Mutter schickt ihn zur Schule, damit er ihr >nicht dauernd im Weg ist< - , und mein ältester Schüler ist zwanzig - ihm >ist schlagartig aufgegangen<, dass es leichter wäre, noch einmal zur Schule zu gehen und eine ordentliche Ausbildung zu bekommen, als weiter hinter dem Pflug zu stehen. Bei der wahnsinnigen Anstrengung, sich jeden Tag sechs Stunden lang alle möglichen Sachen einzupauken, wundert es mich nicht, wenn sich die Kinder Vorkommen wie der kleine Junge am Filmprojektor: >Ich muss erst nachsehen, was als Nächstes kommt, sonst weiß ich nicht mehr, was vorher war.< Genauso geht es mir auch.
    Und dann die Briefe, die ich bekomme, Anne! Alle Eltern halten ihre Kinder für verkappte Genies, die nur ungerecht behandelt würden!
    Und was das Geld angeht - aber das lasse ich lieber.
    So, nach dem Gemeckere geht es mir besser. Alles in allem habe ich die letzten zwei Jahre auch genossen. Aber ich will ans Redmond.
    Und jetzt, Anne, hätte ich da noch einen Vorschlag. Du weißt, dass ich diese Pensionen nicht ausstehen kann. Vier Jahre lang habe ich in solchen Unterkünften gewohnt und ich hasse sie. Noch drei Jahre würde ich es nicht ertragen. Könnten also nicht du und Priscilla und ich uns zusammentun, irgendwo in Kingsport ein kleines Haus mieten und uns selbst verpflegen? Es wäre auch viel billiger. Natürlich würden wir jemand brauchen, der uns den Haushalt führt, und da wüsste ich auch gleich jemand. Ich habe euch doch sicher schon von Tante Jamesina erzählt? Sie ist die netteste Tante der Welt, trotz ihres Namens. Ihre einzige Tochter hat vor kurzem geheiratet und ist zur Fremdenmission gegangen. Tante Jamesina wohnt nun allein in einem riesengroßen Haus und ist schrecklich einsam. Wenn es uns recht wäre, würde sie nach Kingsport kommen und uns den Haushalt führen, und ich bin sicher, ihr würdet sie mögen. Je länger ich darüber nachdenke, umso besser finde ich die Idee. Wir könnten eine herrliche unabhängige Zeit verleben.
    Wenn euch die Idee gefällt, wäre es dann nicht am einfachsten, wenn ihr, da ihr an Ort und Stelle seid, euch dies Frühjahr nach einem geeigneten Haus umsehen würdet? Es wäre besser, als bis zum Herbst zu warten. Wenn ihr ein möbliertes Haus finden könntet, umso besser, aber wenn nicht, können wir bei uns dreien zu Hause und bei Freunden bestimmt ein paar Möbel auftreiben. Jedenfalls, entscheidet euch möglichst bald und schreibt mir, damit auch Tante Jamesina weiß, woran sie ist, und fürs nächste Jahr planen kann.«
    »Ich finde die Idee gut«, sagte Priscilla.
    »Ich auch«, stimmte Anne begeistert zu.

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