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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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hereingelassen. Die Tür führte geradewegs in eine große Wohnstube, wo an einem munter flackernden Feuer zwei weitere Damen saßen, die beide ebenfalls grimmig und alt aussahen. Außer dass die eine wie siebzig und die andere wie fünfzig aussah, schienen sie sich kaum voneinander zu unterscheiden. Beide hatten erstaunte hellblaue Augen hinter stahlgerahmten Brillen; beide trugen Mütze und Schal; beide strickten ohne Hast, aber stetig weiter und musterten die Mädchen, ohne ein Wort zu sagen. Hinter jeder saß ein großer weißer Porzellanhund, übersät mit grünen Punkten, einer grünen Nase und grünen Ohren. Diese Hunde nahmen Annes Phantasie sofort gefangen. Sie sahen aus wie Zwillings-Hundegottheiten von Pattys Haus.
    Einige Minuten lang sprach niemand. Die Mädchen waren zu nervös, als dass ihnen etwas eingefallen wäre, und weder die alten Damen noch die Porzellanhunde waren gesprächig. Anne sah sich im Zimmer um. Was für ein schönes Haus! Eine weitere Tür ging direkt auf das Kiefernwäldchen hinaus und die Drosseln kamen dreist bis an die Türstufe. Den Fußboden bedeckte hier und da ein runder geflochtener Teppich, wie sie Marilla für Green Gables auch machte. In einer Ecke tickte eine große glänzende Standuhr feierlich vor sich hin. Über dem Kaminsims waren hübsche kleine Schränkchen angebracht, hinter deren Fensterglas altmodisches Geschirr schimmerte. Die Wände hingen voller alter Drucke und Scherenschnitte. In einer Ecke führte eine Treppe nach oben und an der untersten Biegung war ein hohes Fenster mit einem gemütlichen Sessel davor. Alles war genauso, wie es Anne im Stillen gehofft hatte.
    Allmählich wurde die Stille unerträglich und Priscilla stieß Anne an, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie endlich etwas sagen musste.
    »Wir... wir... haben auf dem Schild gelesen, dass dies Haus zu vermieten ist«, sagte Anne schwach an die ältere Dame gewandt, bei der es sich offensichtlich um Miss Patty Spofford handelte.
    »Ah ja«, sagte Miss Patty. »Ich wollte das Schild heute eigentlich wieder abnehmen.«
    »Dann sind wir wohl zu spät gekommen«, sagte Anne traurig. »Sie haben es an jemand anderen vermietet.«
    »Nein, aber wir haben uns entschieden, es doch nicht zu vermieten.«
    »Oh, das ist aber schade«, rief Anne unwillkürlich aus. »Ich liebe dieses Haus. Ich hatte gehofft, dass wir es vielleicht bekommen.«
    Daraufhin legte Miss Patty ihr Strickzeug beiseite, nahm ihre Brille ab, rieb sie sauber, setzte sie wieder auf und betrachtete Anne zum ersten Mal wie ein richtiges menschliches Wesen. Die andere Dame machte ihr haargenau alles nach.
    »Du liebst es also«, sagte Miss Patty mit Betonung. »Heißt das, dass es dir so richtig gut gefällt? Oder gefällt dir nur, wie es aussieht? Die Mädchen von heute neigen immer gleich zu Übertreibungen, sodass man nie genau sagen kann, was sie wirklich meinen. Ich in meinen jungen Tagen war da anders. Damals sagte man nicht, ich liebe Stoppelrüben, in so einem Ton, wie man es vielleicht zur Mutter gesagt hätte.«
    Anne blieb standhaft.
    »Ich liebe es wirklich«, wiederholte sie. »Gleich als ich es letzten Herbst das erste Mal gesehen habe. Meine beiden Freundinnen vom College und ich möchten uns im nächsten Collegejahr gern selbst versorgen, statt in einer Pension zu wohnen. Darum suchen wir ein kleines Haus, und als ich das Schild gesehen habe, da war ich überglücklich.«
    »Wenn du es wirklich liebst, dann kannst du es haben«, sagte Miss Patty. »Maria und ich haben heute beschlossen, dass wir es doch nicht vermieten wollen, weil uns keiner der Interessenten zugesagt hat. Wir müssen ja nicht vermieten, wir können uns die Reise nach Europa auch so leisten. Das Geld würde uns zwar zustatten kommen, aber nicht für alles Geld der Welt würde ich dies Haus den Leuten, die gestern hier waren und es sich angesehen hatten, überlassen. Ihr seid etwas anders. Ich glaube, euch gefällt es tatsächlich und ihr würdet gut damit umgehen. Ihr könnt einziehen.«
    »Wenn . . . wenn wir so viel bezahlen können, wie Sie dafür verlangen«, wandte Anne ein.
    Miss Patty nannte den gewünschten Betrag. Anne und Priscilla sahen sich an. Priscilla schüttelte den Kopf.
    »So viel können wir uns nicht leisten«, sagte Anne und schluckte ihre Enttäuschung hinunter. »Verstehen Sie, wir sind Studentinnen am College und haben nicht viel Geld.«
    »Wie viel hattet ihr euch denn so vorgestellt?«, fragte Miss Patty, ohne zu stricken

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