Anne in Kingsport
Phil war glücklich mit dem kleinen Zimmer über der Küche. Tante Jamesina bekam das Zimmer im Keller, zu dem von der Wohnstube eine Treppe hinabführte. Rusty schlief zunächst auf der Türstufe.
Als Anne ein paar Tage nach der Ankunft vom Redmond nach Hause ging, fiel ihr auf, dass Passanten sie gespannt beobachteten. Was hatte sie denn bloß an sich? Saß ihr Hut schief? War ihr Gürtel locker? Als sie den Kopf reckte, um der Sache auf den Grund zu gehen, erblickte Anne Rusty zum ersten Mal.
Der Kater war schon älter und war dürr und mager und sah heruntergekommen aus. An beiden Ohren fehlte ein Stück, auf einem Auge konnte er nur schlecht sehen und ein Kiefer war so geschwollen, dass es komisch aussah. Was seine Farbe anging - er hatte ein dünnes, dreckiges, unansehnliches Fell, sodass er aussah wie eine versengte schwarze Katze.
Anne »verscheuchte« ihn, aber der Kater ließ sich nicht verscheuchen. Blieb sie stehen, setzte er sich auf die Hinterbeine und sah sie mit dem heilen Auge vorwurfsvoll an. Ging sie weiter, folgte er ihr. Anne kümmerte sich nicht weiter um ihn, bis sie zu Pattys Haus kam. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu und hoffte, dass sie ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekam. Aber als eine Viertelstunde später Phil die Tür aufmachte, hockte der rotbraune Kater noch immer auf der Schwelle. Ja, er schoss ins Haus und sprang mit einem halb flehenden, halb triumphierenden »Miau« auf Annes Schoß.
»Anne«, sagte Stella scharf, »gehört dir das Vieh?«
»Nein«, protestierte Anne angeekelt. »Es ist mir nachgelaufen. Ich bin es einfach nicht losgeworden. Grrr, verschwinde. Ordentliche Katzen mag ich, aber Viecher wie dich kann ich nicht leiden.«
Der Kater weigerte sich jedoch zu verschwinden. Er rollte sich seelenruhig auf Annes Schoß zusammen und fing an zu schnurren.
»Er hat dich ins Herz geschlossen«, lachte Priscilla.
»Ich will aber nicht«, sagte Anne störrisch.
»Das arme Tier stirbt noch vor Hunger«, sagte Phil voller Mitleid. »Man kann bei ihm alle Rippen zählen.«
»Also gut, ich gebe ihm ordentlich was zu fressen, und dann soll er hingehen, wo er hingehört«, sagte Anne fest.
Der Kater bekam Futter und wurde vor die Tür gesetzt. Am Morgen hockte er immer noch auf der Türstufe. Dort blieb er auch hocken und sprang ins Haus, sobald die Tür aufgemacht wurde. Auch ein noch so kühler Empfang zeigte keine Wirkung. Niemand außer Anne schenkte er Beachtung. Aus Mitleid gaben sie ihm zu fressen. Nach einer Woche beschlossen sie, dass etwas unternommen werden musste. Der Kater sah inzwischen schon besser aus. Auge und Kiefer waren wieder normal. Er war nicht mehr ganz so mager und hatte sich das Fell geputzt.
»Wir können ihn aber nicht behalten«, sagte Stella. »Nächste Woche kommt Tante Jimsie mit Katze Sarah. Zwei Katzen sind aber zu viel. Rusty würde sich nur ständig mit Sarah raufen. Das ist eben seine Natur. Gestern hat er sich eine regelrechte Schlacht mit der Katze des Tabakkönigs geliefert, bis er sie in die Flucht geschlagen hat.«
»Wir müssen ihn loswerden«, stimmte Anne zu und betrachtete finster den Gegenstand ihrer Unterhaltung, der schnurrend und lammfromm auf dem Läufer vor dem Kamin lag. »Die Frage ist nur - wie?«
»Wir betäuben ihn mit Chloroform«, sagte Phil energisch. »Das ist der humanste Weg.«
»Wer kennt sich damit aus?«, fragte Anne düster.
»Ich. Das ist eine meiner wenigen Fähigkeiten. Zu Hause musste ich das schon des Öfteren machen. Man schnappt sich die Katze morgens und gibt ihr ordentlich zu fressen. Dann nimmt man einen alten Korb mit Sackleinen - auf der hinteren Veranda steht einer -, setzt die Katze hinein und stellt eine Holzkiste darüber. Dann nimmt man eine Flasche mit Chloroform, zieht den Korken heraus und stellt sie flink unter die Kiste. Oben auf die Kiste legt man ein Gewicht und wartet bis zum Abend. Dann liegt die Katze friedlich zusammengerollt da, so als würde sie schlafen. Keine Schmerzen - kein Todeskampf.«
»Es klingt ganz einfach«, sagte Anne zweifelnd.
»Es ist einfach. Lasst mich nur machen. Ich nehme es in die Hand«, versicherte Phil.
Also wurde Chloroform besorgt, und am nächsten Morgen wurde Rusty seinem Schicksal zugeführt. Er fraß, leckte sich das Maul und kletterte auf Annes Schoß. Anne befielen Zweifel. Diese arme Kreatur hing an ihr - vertraute ihr. Wie konnte sie ihm das antun?«
»Hier, nimm du ihn«, sagte sie hastig zu Phil. »Ich komme mir vor wie
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