Anne in Kingsport
geschrieben - oder es wurde ein großartiger Mensch geboren. Wieder anderen hat es heute vielleicht das Herz gebrochen.«
»Warum musstest du die schönen Gedanken zerstören und den letzten Satz anhängen?«, brummte Phil. »Ich mag jetzt nicht an gebrochene Herzen denken - oder an sonst was Unerfreuliches.«
»Meinst du denn, du kannst ewig unerfreulichen Dingen aus dem Weg gehen, Phil?«
»Du liebe Zeit, nein. Bin ich etwa jetzt davor gefeit? Du willst doch wohl nicht die Alec-und-Alonzo-Frage als erfreuliche Angelegenheit bezeichnen, oder, wo sie mir alles vergällt?«
»Nie nimmst du etwas ernst, Phil.«
»Warum auch? Es gibt schon genügend, die das tun. Die Welt braucht Leute wie mich, Anne, damit es amüsanter zugeht. Es wäre schrecklich auf der Erde, wenn alle so nachdenklich und traurig, todtraurig ernst wären. Sag selbst, war das Leben in Pattys Haus nicht wirklich viel lustiger und angenehmer, weil ich dem Ganzen Würze verliehen habe?«
»Ja, das stimmt«, erkannte Anne an.
»Und ihr mögt mich, wie ich bin - sogar Tante Jamesina, auch wenn sie mich für total verrückt hält. Warum also sollte ich mich ändern? Oh, Herzchen, ich bin ja so müde. Gestern war ich bis ein Uhr nachts wach und habe eine schaurige Gespenstergeschichte gelesen. Übrigens, Anne, hat Tante Jamesina sich schon überlegt, was sie im Sommer macht?«
»Ja, sie bleibt hier. Alles nur wegen der verflixten Katzen, obwohl sie meint, es wäre zu viel Aufwand, ihr Haus erst wieder herzurichten. Und irgendwo die Gastrolle spielen kann sie nicht ausstehen.«
»Ach, sag mal, haben wir nicht noch irgendwelche leckeren Sachen zu essen? Ich sterbe vor Hunger!«
»Ich habe heute Morgen einen Zitronenkuchen gebacken. Davon kannst du dir ein Stück nehmen.«
Phil schoss hinaus in die Speisekammer. Anne ging, begleitet von Rusty, in den Garten. Es war ein feuchter Vorfrühlingsabend voll schöner Düfte. Im Park lag hier und da noch Schnee, auch unter den Kiefern der Hafenstraße, dort, wo die Aprilsonne nicht hinkam, lagen noch schmutzige Schneereste. Also war die Hafenstraße dauernd voller Matsch und abends war die Luft noch kühl. Aber an geschützten Stellen wuchs Gras und Gilbert hatte in einem versteckten Winkel Heide entdeckt. Er kam mit einem Strauß Heide aus dem Park.
Anne saß verträumt auf dem großen grauen Stein im Obstgarten. Sie runzelte die Stirn, als sie Gilbert durch den Garten kommen sah. In letzter Zeit hatte sie es immer so eingerichtet, dass sie möglichst nicht mit Gilbert allein war.
Aber jetzt hatte er sie erwischt. Sogar Rusty war verschwunden.
Gilbert setzte sich neben sie auf den Stein und hielt ihr den Heidestrauß hin.
»Erinnerst du dich auch an zu Hause und an unsere Picknicks früher, Anne?«
Anne nahm sie und verbarg ihr Gesicht darin.
»Ich fühle mich auf Mr Silas Sloanes Feld versetzt«, sagte sie verzückt.
»Da wirst du in ein paar Tagen wohl tatsächlich sein?«
»Nein, erst in zwei Wochen. Vorher fahre ich mit Phil nach Bolingbroke. Du wirst also vor mir in Avonlea sein.«
»Nein, ich gehe den Sommer nicht nach Avonlea, Anne. Ich kann bei der Daily News arbeiten und ich habe zugesagt.«
»Oh«, sagte Anne unbestimmt. Sie fragte sich, wie es sein würde - ein ganzer Sommer ohne Gilbert. Irgendwie gefiel ihr die Aussicht nicht. »Hm«, sagte sie lustlos, »schön für dich.«
»Ja, ich habe gehofft, dass es klappt. Jetzt komme ich das nächste Jahr über die Runden.«
»Du solltest nicht zu viel arbeiten«, sagte Anne, ohne sich ganz bewusst zu sein, was sie sagte. Sie wünschte sich verzweifelt, dass Phil endlich auftauchte. »Du hast das ganze Wintersemester schon schwer geschuftet. Ist es nicht ein herrlicher Abend? Weißt du, dass ich heute unter dem knorrigen alten Baum Veilchen gefunden habe? Es war, als wäre ich auf eine Goldmine gestoßen.«
»Das passiert dir doch laufend«, sagte Gilbert - ebenfalls abwesend.
»Lass uns nachsehen, ob wir noch mehr finden«, schlug Anne eifrig vor. »Ich rufe Phil, und . . .«
»Lass Phil und die Veilchen, Anne«, sagte Gilbert ruhig und hielt ihre Hand so fest, dass sie sie nicht wegziehen konnte. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Oh, nicht«, rief Anne flehend. »Nicht - bitte Gilbert.«
»Es muss sein. So kann es nicht weitergehen, Anne. Ich liebe dich. Das weißt du. Ich . .. ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Willst du mich heiraten?«
»Ich ... ich kann nicht«, sagte Anne elend. »Oh Gilbert . . . du ... du hast alles
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