Anne in Kingsport
Jahren gewohnt«, sagte sie auf Annes Frage. »Sie wohnten hier zur Miete. Ich erinnere mich an sie. Sie sind kurz hintereinander gestorben. Es war furchtbar traurig. Sie ließen ein Baby zurück. Der alte Thomas und seine Frau haben es aufgenommen - dabei hatten die selbst so viele Kinder.«
»Mich gibt es aber noch«, sagte Anne und lächelte. »Ich war das Baby.«
»Was du nicht sagst! Mensch, bist du aber groß geworden«, rief die Frau aus, als verwundere es sie, dass Anne kein Baby mehr war. »Lass dich ansehen, stimmt, da ist ‘ne Ähnlichkeit. Du schlägst mehr nach deinem Pa. Er hatte auch rote Haare. Aber deine Augen und dein Mund gehen mehr nach deiner Ma. Sie war ‘ne ganz Liebe. Meine Tochter war bei ihr in der Schule, sie hat fast durchgedreht wegen ihr. Sie wurden zusammen beerdigt und die Schulbehörde hat zum Gedenken an sie einen Grabstein errichten lassen. Wollt ihr reinkommen?«
»Darf ich mich einmal im ganzen Haus umsehen?«
»Aber ja, wenn du willst. Brauchst nicht lange dafür - ist ja nicht groß. Ich rede dauernd auf meinen Mann ein, dass er ‘ne Küche anbaut, aber er ist kein Arbeitstier. Die Wohnstube ist hier und zwei Zimmer gibt’s noch oben. Sieh dich ruhig um. In dem Zimmer nach Osten hin bist du übrigens geboren. Ich weiß noch, wie deine Ma immer sagte, sie sähe sich so gern den Sonnenaufgang an. Und ich erinnere mich, dass sie gesagt hat, dass du bei Sonnenaufgang geboren wärst und dass ihr als Erstes das Licht aufgefallen wäre, wie es auf dein Gesicht schien.«
Anne ging die schmale Treppe hinauf und trat in das kleine nach Osten zeigende Zimmer. Es kam ihr vor wie ein Heiligtum. Hier war ihre Mutter gestorben. Anne sah sich ehrerbietig und mit vor Tränen trübem Blick um. »Das muss man sich vorstellen - als ich geboren wurde, war Mutter jünger als ich jetzt«, flüsterte sie.
Als Anne hinunterging, kam die Hausherrin im Flur auf sie zu. Sie hielt ihr ein staubiges kleines Päckchen hin, zusammengehalten mit einem verblassten blauen Band.
»Das sind alte Briefe, die ich beim Einzug in dem Schrank da oben gefunden hab«, sagte sie. »Keine Ahnung, was drinnen steht - hab mir nie die Mühe gemacht, sie zu lesen, aber die Adresse auf dem obersten lautet >Miss Bertha Willis<, das war doch der Mädchenname deiner Ma. Aber du kannst sie haben, wenn du sie willst.«
»O danke - danke«, rief Anne und nahm entzückt das Päckchen entgegen. »Ich besitze nicht ein Erinnerungsstück von meiner Mutter«, sagte Anne und schluckte. »Ich . . . kann Ihnen gar nicht genug danken für die Briefe.«
»Ach, keine Ursache. Liebes, deine Augen gehen tatsächlich ganz nach deiner Ma. Dein Vater war irgendwie nicht ganz so schön, aber auch furchtbar nett. Ich weiß noch, wie die Leute bei ihrer Hochzeit sagten, dass sie noch nie zwei erlebt hätten, die sich so gern hätten - die Armen, sie haben ja dann nicht mehr lange zu leben gehabt. Aber sie waren schrecklich glücklich miteinander und ich meine, das ist ja auch viel wert.«
Anne wollte sehnlichst nach Hause, um die Briefe zu lesen, aber vorher ging sie allein auf den Friedhof von Bolingbroke zum Grab ihrer Eltern und legte die Blumen, die sie mitgenommen hatte, aufs Grab. Dann kehrte sie schnell nach Mount Holly zurück, schloss sich in ihr Zimmer ein und las die Briefe. Sie stammten von ihrem Vater und von ihrer Mutter. Es waren nicht viele - insgesamt nur ein Dutzend -, denn Bertha und Walter Shirley waren nicht oft voneinander getrennt gewesen. Die Briefe waren gelblich, verblichen und matt, sie hatten Flecken bekommen im Verlauf der Jahre. Auf den fleckigen knitterigen Blättern standen keine tief schürfenden geistreichen Erkenntnisse, nur von Liebe und Vertrauen war die Rede. Anne fand am schönsten den Brief, den ihre Mutter nach der Geburt an ihren Vater geschrieben hatte, als der für eine kurze Zeit fort gewesen war.
»Am liebsten habe ich sie, wenn sie schläft, und noch lieber, wenn sie wach ist«, hatte Bertha Shirley im Nachsatz geschrieben. Vermutlich war es der letzte Satz, den sie geschrieben hatte. Denn sie hatte nicht mehr lange gelebt.
»Das war der wundervollste Tag in meinem Leben«, sagte Anne an dem Abend zu Phil. »Ich habe meine Mutter und meinen Vater gefunden. Diese Briefe machen sie wirklich. Ich bin kein Waisenkind mehr. Es ist, als hätte ich ein Buch aufgeschlagen und zwischen den Seiten verblühte Rosen entdeckt, kostbare Rosen.«
22 - Frühling und Annes Rückkehr nach Green
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