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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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verdorben.«
    »Machst du dir denn gar nichts aus mir?«, fragte Gilbert nach einer schrecklichen langen Pause, wobei Anne sich nicht getraut hatte, aufzusehen.
    »Nicht . . . nicht so. Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Aber ich liebe dich nicht, Gilbert.«
    »Kann ich mir denn gar keine Hoffnung machen, dass du ... ?«
    »Nein«, rief Anne verzweifelt. »Ich ... ich liebe dich nicht... nicht so ... Gilbert. Du darfst nie wieder davon anfangen.« Wieder entstand eine Pause - eine so lange schreckliche Pause, dass Anne schließlich verzweifelt aufsah. Gilbert war kreidebleich. Und seine Augen - aber Anne zitterte und sah weg. Das hatte nichts Romantisches. Waren Heiratsanträge entweder grotesk oder - grauenvoll? Würde sie je sein Gesicht vergessen können?«
    »Gibt es einen anderen?«, fragte er schließlich mit leiser Stimme.
    »Nein - nein«, sagte Anne eifrig. »Ich mache mir nichts aus so welchen - ich mag dich lieber als irgendjemanden auf der Welt, Gilbert. Und wir müssen - wir müssen Freunde bleiben, Gilbert.«
    Gilbert stieß ein kleines bitteres Lachen aus.
    »Freunde! Deine Freundschaft ist mir nicht genug, Anne. Ich will, dass du mich liebst - und da sagst du, dass es das nie geben wird.«
    »Es tut mir Leid. Verzeih, Gilbert«, mehr konnte Anne nicht sagen.
    Gilbert ließ sanft ihre Hand los.
    »Da gibt es nichts zu verzeihen. Es hat schon mal so ausgesehen, als würde ich dir etwas bedeuten. Ich habe mich eben getäuscht, Ende. Auf Wiedersehen, Anne.«
    Anne ging in ihr Zimmer, setzte sich in den Stuhl am Fenster und weinte bitterlich. Ihr war, als wäre etwas unschätzbar Kostbares aus ihrem Leben verschwunden. Gilberts Freundschaft eben.
    »Was ist los, Herzchen?«, fragte Phil, die im Dunkeln hereinkam. Anne gab keine Antwort. In dem Augenblick wünschte sie Phil tausende von Meilen weit weg.
    »Du bist also hingegangen und hast Gilbert den Laufpass gegeben. Du bist eine Idiotin, Anne Shirley!«
    »Nennst du es idiotisch, wenn ich mich weigere, einen Mann zu heiraten, den ich nicht liebe?«, sagte Anne eiskalt, jetzt wo sie sich zu einer Antwort herausgefordert sah.
    »Man erkennt die Liebe nicht immer auf Anhieb. In deiner Phantasie hast du dir irgendwas zurechtgelegt, was du für Liebe hältst, und jetzt denkst du, dass es im wirklichen Leben haargenauso ist. So, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas Vernünftiges von mir gegeben habe. Dass ich das fertig gebracht habe!«
    »Phil!«, bat Anne, »geh bitte und lass mich allein. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich muss sie erst wieder aufbauen.«
    »Eine Welt ohne Gilbert?«, sagte Phil und ging.
    Eine Welt ohne Gilbert! Anne wiederholte trostlos die Worte. Würde es nicht eine sehr einsame verlassene Welt sein? Nun, es war einzig und allein Gilberts Schuld. Er hatte ihre schöne Freundschaft zerstört. Sie musste eben lernen, ohne diese Freundschaft zu leben.

21 - Verblühte Rosen
    In Bolingbroke verlebte Anne zwei schöne Wochen. Unterschwellig aber verspürte sie einen unbestimmten Schmerz und eine Unzufriedenheit, wenn sie an Gilbert dachte. Dazu allerdings kam sie nicht oft. Denn auf »Mount Holly«, dem schönen alten Anwesen der Gördens, ging es zu wie in einem Taubenschlag. Phils Freunde gaben sich die Klinke in die Hand. Außerdem machten sie Ausflüge, Tanzabende, Picknicks und Bootspartys, die Phil organisierte. Alec und Alonzo waren stets und ständig zu Diensten, sodass Anne sich schon fragte, ob sie je noch etwas anderes taten. Sie waren beide nett, aber Anne gab nicht preis, wen von beiden sie nun netter fand.
    »Dabei habe ich mich ganz auf deine Hilfe verlassen«, sagte Phil traurig.
    »Die Entscheidung musst du selbst treffen. Bei anderen bist du doch sonst auch eine Expertin in der Frage, wen sie am besten heiraten sollen«, erwiderte Anne ziemlich bissig.
    »Das ist etwas ganz anderes«, sagte Phil geradeheraus.
    Aber Annes schönstes Erlebnis in Bolingbroke war der Besuch ihres Geburtshauses - ein kleines, schäbiges gelbes Haus in einer abgelegenen Straße, wie sie es sich so oft ausgemalt hatte. Sie betrachtete es verzückt, als Phil und sie durchs Tor gingen.
    »Es sieht fast genauso aus, wie ich es mir vorgestellt habe«, sagte sie. »Es hat zwar kein Geißblatt über den Fenstern, aber am Gartentor steht tatsächlich ein Fliederbusch - ja, und vor den Fenstern hängen Musselingardinen.«
    Eine sehr große, sehr dünne Frau öffnete die Tür.
    »Ja, die Shirleys haben hier vor zwanzig

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