Anne in Kingsport
zurück.
»Ich bin eine gebrechliche alte Frau, Miss Shirley. Seit mehr als zwanzig Jahren muss ich jetzt schon leiden. Seit zwanzig langen und qualvollen Jahren.«
»Wie grauenvoll!«, sagte Anne, die verständnisvoll sein wollte und sich nun idiotisch vorkam.
»Es hat so manche Nacht gegeben, wo man geglaubt hat, ich würde den Morgen nicht mehr erleben«, fuhr Mrs Douglas ernst fort. »Kein Mensch kann sich vorstellen, was ich durchgemacht habe - kein Mensch, nur ich ganz allein. Nun, lange wird es wohl nicht mehr weitergehen. Mein qualvolles Dasein hat bald ein Ende, Miss Shirley. Es ist mir ein großer Trost, dass John eine so gute Frau gefunden hat, die sich nach meinem Tod um ihn kümmern kann - ein großer Trost, Miss Shirley.«
»Janet ist reizend«, sagte Anne herzlich.
»Reizend! Und anständig«, stimmte Mrs Douglas zu. »Ich bin wirklich sehr froh, dass John eine so kluge Wahl getroffen hat. Ich hoffe und glaube, dass er glücklich werden wird. Er ist mein einziger Sohn, Miss Shirley, und sein Glück liegt mir ja so am Herzen.«
»Natürlich«, sagte Anne dümmlich. So dümmliche Antworten waren eigentlich gar nicht ihre Art, und sie konnte sich nicht erklären, woran es lag. Sie schien dieser lieben, lächelnden alten Dame, die so freundlich ihre Hand tätschelte, nichts zu sagen zu haben.
»Kommen Sie mich bald einmal wieder besuchen, liebste Janet?«, sagt Mrs Douglas liebenswürdig, als sie aufbrachen. »Sie kommen viel zu selten. Aber bald wird John Sie ja für immer herholen.«
Anne, die zufällig einen Blick auf John Douglas erhaschte, als seine Mutter das sagte, sah, wie er erschrocken zusammenzuckte. Er schaute so gequält drein wie ein Mensch, dem die Peiniger den letzten Folterstoß versetzen. Er war tief getroffen, und Anne schob die rot gewordene Janet aus dem Haus. »Ist Mrs Douglas nicht reizend?«, sagte Janet, als sie die Straße hinuntergingen.
»Hm-m-m«, antwortete Anne abwesend. Sie fragte sich, warum John Douglas so geschaut hatte.
»Sie hat schlimm gelitten«, sagte Janet mitfühlend. »Sie hat immer wieder schlimme Rückfälle. John ist vor Sorge um sie ganz krank. Er traut sich kaum einmal aus dem Haus aus Angst, es könnte plötzlich mit ihr zu Ende gehen, und dann wäre nur das Dienstmädchen da, das sich um sie kümmern könnte.«
33 - »Er kam immer, immer wieder«
Als Anne drei Tage später von der Schule nach Hause kam, fand sie Janet weinend vor. Janet und Tränen, das passte nicht zusammen. Anne war ernsthaft beunruhigt.
»Was ist denn passiert?«, rief sie besorgt.
»Ich ... ich werde heute vierzig«, schluchzte Janet.
»Na ja, gestern waren Sie fast vierzig, und es hat auch weiter nicht weh getan«, tröstete Anne sie und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken.
»Aber... aber«, fuhr Janet heftig schluckend fort, »John Douglas stellt sich stur und fragt einfach nicht.«
»Doch, das wird er schon noch«, sagte Anne lahm. »Sie müssen ihm nur Zeit lassen, Janet.«
»Zeit!«, sagte Janet unbeschreiblich höhnisch. »Zwanzig Jahre hat er Zeit gehabt. Wie viel will er noch?«
»Wollen Sie damit sagen, John Douglas hält Sie seit zwanzig Jahren hin?«
»Ja, nicht ein einziges Mal hat er von Heirat gesprochen. Und jetzt glaube ich einfach nicht mehr daran. Nie habe ich mit jemand darüber gesprochen, aber ich muss endlich mit jemand reden, oder ich drehe durch. John Douglas und ich haben uns vor zwanzig Jahren angefreundet, lange bevor meine Mutter starb. Er kam immer, immer wieder. Schließlich habe ich angefangen, Decken zu stricken und so. Aber nie hat er etwas von Heirat gesagt, er ist nur immer wieder gekommen. Was sollte ich denn tun? Als meine Mutter starb, gingen wir schon acht Jahre zusammen. Ich dachte, vielleicht fragt er mich jetzt, wo ich keine Menschenseele mehr hatte auf der Welt. Er war wirklich nett und mitfühlend und hat alles für mich getan, aber nie hat er gesagt: »Lass uns doch heiraten.« Und so geht das seither. Die Leute schieben mir die Schuld in die Schuhe. Sie sagen, ich wollte nicht, weil seine Mutter kränklich ist und ich mich nicht mit ihrer Pflege abplagen wolle. Dabei würde ich mich gern um Johns Mutter kümmern. Aber ich lasse die Leute in dem Glauben. Mir ist lieber, man gibt mir die Schuld, als dass man Mitleid mit mir hat! Es ist demütigend. Aber warum hält er nicht um meine Hand an? Wenn ich nur den Grund wüsste, dann würde es mir vielleicht nicht so viel ausmachen.«
»Vielleicht ist seine Mutter
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