Anne in Kingsport
anziehend. Er hatte auffallend lange Beine, die er unter dem Sitz verschränken musste, damit sie ihm nicht im Weg waren - und eine leicht gebeugte Haltung. Er hatte klobige Hände und einen ungepflegten Schnurrbart, und er gehörte überhaupt dringend zum Friseur. Aber Anne gefiel sein Gesichtsausdruck. Er sah freundlich, ehrlich und sanftmütig aus. Und noch etwas war da -was, konnte Anne schwer beschreiben. Sie kam schließlich zu dem Schluss, dass dieser Mann viel durchgemacht haben musste und es mit Geduld, Humor und Langmut getragen hatte.
Nach der Kirche ging er auf Janet zu und sagte: »Darf ich dich nach Hause begleiten, Janet?«
Janet hakte sich bei ihm ein - »so geziert und schüchtern, als wäre sie gerade sechzehn und würde zum ersten Mal nach Hause begleitet«, erzählte Anne später den Mädchen von Pattys Haus.
»Miss Shirley, darf ich Ihnen Mr Douglas vorstellen«, sagte sie steif.
Mr Douglas nickte und sagte: »Sie sind mir schon in der Kirche aufgefallen, Miss, und ich dachte so bei mir, was Sie doch für eine nette Person sind.«
Bei neunundneunzig von hundert Leuten hätte Anne so etwas fürchterlich geärgert. Aber so wie Mr Douglas das sagte, fasste sie es als ein ehrlich gemeintes Kompliment auf. Sie lächelte ihn dankend an und blieb auf der Straße höflich ein Stück hinter ihnen.
Janet hatte also einen Verehrer! Anne war begeistert.
»John Douglas hat gefragt, ob wir nicht zusammen seine Mutter besuchen wollen, damit Sie sie kennen lernen«, sagte Janet am nächsten Tag. »Sie ist bettlägerig und kommt nie aus ihren vier Wänden. Aber sie hat mächtig gern Besuch und möchte immer gern meine Gäste kennen lernen. Geht es heute Abend?«
Anne war einverstanden. Doch später kam Mr Douglas vorbei und fragte im Namen seiner Mutter an, ob sie den Besuch nicht auf Samstagnachmittag verschieben könnten.
»Warum haben Sie denn nicht das hübsche Stiefmütterchenkleid angezogen?«, fragte Anne, als sie aus dem Haus gingen. Es war heiß, und die arme Janet, die aufgeregt war und obendrein ihr dickes schwarzes Wollkleid anhatte, sah aus, als würde sie bei lebendigem Leibe gebraten.
»Mrs Douglas würde das unschicklich finden, fürchte ich. John gefällt das Kleid aber«, fügte sie hinzu.
Das Anwesen der Douglas’ war eine Meile vom »Haus am Wegrand« entfernt und lag auf einem Hügel. Es war groß und behaglich und drum herum standen Ahorn- und Obstbäume. Überhaupt schien es den Douglas’ gut zu gehen.
John Douglas empfing sie an der Tür und führte sie in die Wohnstube, wo seine Mutter in einem Lehnstuhl saß.
Anne hatte sich Mrs Douglas groß und schlank vorgestellt, weil sie von Mr Douglas auf sie geschlossen hatte. Stattdessen war sie eine kleine Person mit zartroten Wangen, hellen blauen Augen und einem kleinen Mund, in dem modischen schwarzen Seidenkleid, dem weißen Wolltuch über den Schultern, dem schneeweißen Haar, auf dem sie einen feinen Spitzenhut trug, gab sie eine Großmutter wie aus dem Bilderbuch ab.
»Wie geht es Ihnen, liebe Janet?«, sagte sie reizend. »Ich freue mich ja so, Sie wieder mal zu sehen.« Sie streckte ihr hübsches Gesicht in die Höhe und ließ sich einen Kuss geben. »Und das ist also unsere neue Lehrerin. Schön, Sie kennen zu lernen. Mein Sohn hat schon so von Ihnen geschwärmt, dass ich schon fast eifersüchtig war. Wie muss es erst Janet ergehen.«
Jane wurde rot, Anne sagte ein paar Nettigkeiten. Dann nahmen alle Platz und unterhielten sich. Das war selbst für Anne ein hartes Stück Arbeit, denn niemand schien sich so recht wohl zu fühlen, außer Mrs Douglas, die munter drauflosschwatzte. Sie forderte Janet auf, sich zu ihr zu setzen, und strich ihr hin und wieder über die Hand. Janet saß da und lächelte und fühlte sich unwohl in ihrer Haut. John Douglas saß da und verzog keine Miene.
Mrs Douglas bat Janet höflich, doch Tee einzuschenken. Janet wurde noch roter, leistete dem aber Folge. Es gab bergeweise zu essen.
»Ich fürchte, mit Janets Kochkünsten können wir nicht mithalten«, sagte sie liebreizend, »In Valley Road kann es niemand mit ihr aufnehmen. Wollen Sie ganz bestimmt nicht noch ein Stück Kuchen, Miss Shirley? Sie haben ja gar nichts gegessen.«
Nach dem Tee saß Mrs Douglas da, lächelte gütig und bat John, mit der »lieben Janet« im Garten ein paar Rosen zu pflücken.
»Miss Shirley leistet mir so lange Gesellschaft - nicht wahr?«, sagte sie jammernd und sank mit einem Seufzer in ihren Lehnstuhl
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