Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
mehr gesehen, nur ab und zu waren sie sich über den Weg gelaufen. An einem lauen Augustabend tauchte er plötzlich auf und setzte sich feierlich auf die Holzbank neben der Veranda. Wie üblich trug er Arbeitskleidung, die aus einer Hose mit vielen Flicken, einem blauen Baumwollhemd, das an den Ellbogen durchschien, und einem zerlöcherten Strohhut bestand. Er kaute auf einem Strohhalm und sah Anne feierlich an. Anne legte mit einem Seufzer ihr Buch zur Seite und nahm ihre Handarbeit auf. Zu einer Unterhaltung mit Sam hatte sie wirklich keine Lust.
    Nach langem Schweigen sagte Sam plötzlich etwas.
    »Ich geh weg von da«, sagte er unvermittelt und zeigte mit dem Strohhalm in Richtung Nachbarhaus.
    »Ach ja?«, sagte Anne höflich.
    »Jawoll.«
    »Und wohin?«
    »Tja, hab mir überlegt, ob ich nicht 'ne Farm pachte. Drüben in Millersville gibt’s eine, die mir gefallen tat. Aber wenn ich sie pachte, dann brauch ich ’ne Frau.«
    »Firn«, sagte Anne unbestimmt.
    Erneut entstand eine lange Pause. Schließlich nahm er den Strohhalm wieder aus dem Mund und sagte: »Wie wär’s mit uns?«
    »W-w-was?«, keuchte Anne.
    »Wie wär’s mit uns?«
    »Du meinst, ob ich .. . ob ich .. . dich heirate?«, fragte Anne schwach.
    »Jawoll.«
    »Ich kenn dich doch kaum«, rief Anne entrüstet.
    »Wir können uns doch nach der Hochzeit kennen lernen«, sagte Sam.
    Anne nahm ihren letzten Rest Stolz zusammen.
    »Ich denke nicht daran«, sagte sie stolz.
    »Na, Sie könnten ’ne schlechtere Partie machen«, hielt ihr Sam entgegen. »Bin fleißig, hab’ ’nen Batzen Geld auf der Bank.«
    »Fang nicht noch einmal mit dem Thema an. Wie kommst du bloß auf die Idee?«, sagte Anne, bei der langsam wieder der Humor die Oberhand gewann. Es war eine völlig absurde Situation.
    »Sie sehn doch ganz nett aus und sind überhaupt ganz flott«, sagte Sam, »’ne lahme Ente will ich nämlich nicht. Denken Sie drüber nach. Mein Angebot gilt. So, ich muss gehn. Muss Kühe melken.«
    Annes Träume hinsichtlich Heiratsanträge hatten in den letzten Jahren so gelitten, dass sie sich kaum noch Illusionen hingab. Über diesen allerdings konnte sie herzlich lachen.
    Am Abend machte sie vor Janet Sam nach und beide lachten sich über seine plötzliche Gefühlswandlung schief und krumm.
    Gegen Ende von Annes Aufenthalt in Valley Road kam eines Nachmittags Alec Ward in rasender Eile zum »Haus am Wegrand« gefahren.
    »Sie sollen sofort zu den Douglas' kommen«, sagte er.
    »Nun liegt die alte Mrs Douglas wohl tatsächlich im Sterben.« Janet holte schnell ihren Hut. Anne fragte, ob es Mrs Douglas schlechter ging als sonst.
    »Nicht halb so schlecht wie sonst«, sagte Alec ernst, »deswegen glaube ich ja, dass es ernst um sie steht. Sonst hat sie immer gejammert und sich durchs Haus geschleppt. Jetzt aber liegt sie still und stumm da. Wenn Mrs Douglas stumm ist, dann ist sie bestimmt schwer krank, da können Sie Gift drauf nehmen.«
    Janet kam in der Dämmerung nach Hause.
    »Mrs Douglas ist tot«, sagte sie müde. »Sie ist, kurz nachdem ich ankam, gestorben. Nur eins hat sie noch gesagt: >Sie werden John jetzt sicher heiraten?««. Es hat mich tief getroffen, Anne. Da hat doch Johns Mutter tatsächlich gedacht, dass ich ihn ihretwegen nicht geheiratet habe! Ich konnte nichts erwidern - es waren ja noch andere Frauen da. Ich war nur froh, dass John aus dem Zimmer gegangen war.«
    Abends nach der Beerdigung saßen Janet und Anne im Sonnenuntergang auf den Stufen der vorderen Veranda. Der Wind hatte nachgelassen und es gab ein unheimliches Wetterleuchten. Janet trug ihr hässliches schwarzes Kleid und sah überhaupt schlecht aus, Augen und Nase waren rot geweint. Sie sprachen nur wenig, denn Janet schien Anne ihre Bemühungen, sie aufzuheitern, zu verübeln. Lieber war ihr elend zu Mute.
    Plötzlich hörten sie den Riegel am Gartentor klacken - John Douglas kam in den Garten marschiert. Er stapfte geradewegs durch das Geranienbeet auf sie zu. Janet stand auf. Anne ebenfalls. Anne war groß und hatte ein auffallend weißes Kleid an. Aber John Douglas nahm sie überhaupt nicht wahr. »Janet«, sagte er, »willst du mich heiraten?«
    Er platzte damit heraus, als hätte er es schon seit zwanzig Jahren fragen wollen und als müsste es jetzt endlich heraus. Janets Gesicht war vom Weinen gerötet, dass es eigentlich gar nicht roter werden konnte, doch es nahm ein noch hässlicheres Purpurrot an.
    »Warum hast du mich das nicht schon früher gefragt?«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher