Anne in Windy Willows
für mich gewinnen. Gegen einen solchen Clan kann ich nicht bestehen.
Und doch bekam ich ein wenig Mitleid mit den beiden alten Damen, als ich mich so im Zimmer umsah. Dieses Haus hatte einmal gelebt ; es waren Menschen in ihm geboren worden und es starben Menschen in ihm. Es hatten Freude und Leid, Liebe und Hass, Hoffnung und Verzweiflung in ihm geherrscht. Und nun waren davon nur noch Erinnerungen und Stolz übrig geblieben.
Als Tante Chatty heute mein Bett frisch beziehen wollte, entdeckte sie zu ihrer Bestürzung einen sternförmigen Kniff im Bettlaken. Sie glaubt, das sei ein Zeichen für einen bevorstehenden Sterbefell im Haus. Tante Kate verabscheut solchen Aberglauben. Aber ich fühle mich mehr zu abergläubischen Menschen hingezogen. Sie verleihen dem Leben Farbe. Wäre es nicht langweilig, wenn alle Menschen immer klug und vernünftig wären? Man hätte ja gar kein Gesprächsthema. Vorgestern Abend geschah eine »Katastrophe«! Dusty Miller kam die ganze Nacht nicht nach Flause, trotz Rebecca Dews unüberhörbarem Rufen. Am nächsten Morgen erschien er dann: ein Auge zu, am Maul eine Beule so groß wie ein Ei. Sein Fell strotzte vor Dreck und eine Tatze war durchgebissen. Aber was für ein triumphierender, reueloser Blick aus seinem unverletzten Auge! Die beiden Tanten waren entsetzt, aber Rebecca Dew freute sich merkwürdigerweise: »Das war sein erster richtiger Kampf. Ich wette, der andere Kater sieht noch viel schlimmer aus als er!«
Vom Hafen zieht jetzt Nebel herauf und verhüllt den kleinen Weg, den die kleine Elizabeth erkunden will. Überall in den Gärten der Stadt werden Blätter und Unkraut verbrannt. Der Rauch und der Nebel lassen die Spook's Lane wirklich gespenstisch erscheinen. Es wird langsam spät und ich höre mein Bett flüstern »komm schlafen«. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, auf Stufen ins Bett und wieder aus dem Bett zu steigen. Ich verrate dir etwas, Gilbert, was ich noch niemandem erzählt habe: Nach meiner ersten Nacht auf Windy Willows dachte ich am Morgen nicht mehr an die Stufen und machte einen Riesensatz aus dem Bett! Mir taten alle Knochen weh, aber zum Glück hatte ich mir nichts gebrochen. Ich trug nur eine Woche lang blaue Flecken mit mir herum.
Inzwischen sind Elizabeth und ich dicke Freunde geworden. Das Dienstmädchen ist zur Zeit bettlägerig, sodass Elizabeth jeden Abend selbst ans Tor kommt, um ihre Milch zu holen. Sie trinkt ihr Glas absichtlich ganz langsam aus, damit wir uns unterhalten können. Aber kaum ist der letzte Tropfen ausgetrunken, klopft es jedes Mal ans Fenster. Ich habe von ihr erfahren, dass es noch etwas gibt, was »Morgen« geschieht: Elizabeth bekommt einen Brief von ihrem Vater. Er hat ihr noch nie einen geschickt. Ich fragte mich, was in dem Mann vorgeht.
»Wissen Sie, Miss Shirley«, erklärte Elizabeth mir, »er kann meinen Anblick nicht ertragen. Aber vielleicht macht es ihm nichts aus, mir zu schreiben.«
»Wer sagt, dass er deinen Anblick nicht ertragen kann?«, fragte ich empört.
»Die Frau. Und es muss doch stimmen, sonst käme er mich doch manchmal besuchen.«
An diesem Abend war sie Beth. Sie ist immer Beth, wenn sie von ihrem Vater spricht. Als Betty schneidet sie ihrer Großmutter und der Frau schreckliche Grimassen hinter ihrem Rücken; aber in Gestalt von Elsie tut es ihr dann wieder Leid, und sie würde es am liebsten beichten, traut sich aber nicht. Sie ist nur ganz selten Elizabeth. Dann sieht sie aus, als ob sie aus einem Märchen stammt. Sie ist wirklich merkwürdig, Gilbert, und ich habe sie sehr lieb. Bei dem Gedanken, dass diese schrecklichen alten Frauen ihr jede Liebe und Freundschaft verwehren, packt mich die Wut. Ich bin sicher, ihre Großmutter meint es nicht so, aber sie versteht sie einfach nicht. Die Frau hingegen macht sich richtig ein Vergnügen daraus, Elizabeth zu quälen. Sie hat mir neulich erzählt, dass sie noch nicht einmal ein Nachtlicht haben darf.
»Die Frau sagt, ich sei groß genug, ohne Licht zu schlafen«, sagte sie unglücklich. »Aber in der dunklen Nacht fühle ich mich so klein, Miss Shirley. Und ich habe eine ausgestopfte Krähe in meinem Zimmer, die mir Angst macht. Die Frau sagt, sie pickt mir die Augen aus, wenn ich weine. Das glaube ich natürlich nicht. Miss Shirley, aber ich habe trotzdem Angst. In der Nacht ist überall Geflüster. Aber >Morgen< habe ich vor nichts mehr Angst - noch nicht einmal vor Entführung.«
»Aber du brauchst doch keine Angst zu haben, dass du
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