Anne in Windy Willows
schnatternd.
»Ja, das hätten Sie«, stimmte Geraldine zu.
Anne sauste in ihrer Verzweiflung nach unten und rief den Doktor an. Bis er eintraf, hatten sich die Zwillinge schon aufgewärmt, und der Doktor versicherte Anne, sie seien außer Gefahr. Sie sollten nur möglichst bis morgen im Bett bleiben. Auf dem Rückweg traf er auf Mrs Raymond, die sofort kreidebleich und in heller Aufregung hereinstürmte.
»Oh, Miss Shirley, wie konnten Sie meinen kleinen Lieblinge einer solchen Gefahr aussetzen?«, rief sie entsetzt.
»Das haben wir ihr auch gesagt, Mama«, kam es aus dem Mund ihrer Lieblinge.
»Und ich habe Ihnen vertraut. Ich sagte Ihnen noch -«, wollte ihre Mutter mit dem Gezeter fortfahren.
»Ich glaube nicht, dass Sie mir die Schuld geben können, Mrs Raymond«, unterbrach Anne kühl. »Wenn Sie sich beruhigt haben, werden Sie das einsehen. Den Kindern geht es gut. Ich habe den Doktor nur vorsichtshalber gerufen. Wenn Gerald und Geraldine auf mich gehört hätten, wäre das alles nicht passiert.«
»Ich dachte, eine Lehrerin hätte wenigstens ein bisschen Autorität über Kinder«, sagte Mrs Raymond verbittert und warf ihr einen bösen Blick zu.
Über andere Kinder vielleicht, aber nicht über kleine Ungeheuer, dachte Anne. Sie sagte jedoch nur: »Jetzt, wo Sie zurück sind, Mrs Raymond, werde ich besser gehen. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch weiter zu Diensten sein kann, und ich muss heute Abend noch Schulaufgaben korrigieren.« Sie wandte sich zur Tür.
Da stürzte einer der Zwillinge aus dem Bett und fiel ihr um den Hals. »Ich wünschte, es gäbe jede Woche eine Beerdigung«, weinte Gerald lauthals. »Ich hab Sie so lieb. Miss Shirley, und ich fände es toll, wenn Sie öfter auf uns aufpassen würden.«
»Ja, das fände ich auch«, pflichtete Geraldine ihm bei.
»Ich hab Sie viel lieber als diese Miss Prouty.«
»Ja, viel lieber!«, stimmte Geraldine zu.
»Schreiben Sie eine Geschichte über uns?«, fragte Gerald.
»Au ja, bitte!«, rief Geraldine und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
»Ich habe den Eindruck, Sie haben es gut gemeint«, sagte Mrs Raymond plötzlich unsicher.
»Danke«, erwiderte Anne in eisigem Ton und versuchte sich vergeblich von den Zwillingen zu befreien.
»Oh, bitte, wir wollen nicht darüber streiten«, bat Mrs Raymond, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich kann es nicht ertragen, mit irgendjemandem zu streiten.«
»Natürlich nicht«, sagte Anne standhaft. »Ich finde, es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, sich zu streiten. Ich denke, Gerald und Geraldine hatten ihren Spaß, was man wohl von der kleinen Ivy Trent nicht gerade behaupten kann.«
Auf dem Heimweg fühlte sich Anne mit einem Mal um Jahre älter. »Und ich habe immer geglaubt, Davy sei schon ein Ungeheuer«, dachte sie.
Zu Hause stieß Anne auf Rebecca, die in der Abenddämmerung Stiefmütterchen aus dem Garten holte.
»Rebecca Dew, bisher habe ich das Sprichwort >Kinder sollte man sehen, aber nicht hören< für grausam gehalten. Aber es ist irgendwie etwas Wahres dran«, sagte sie, während sie sich auf die Gartenpforte lehnte.
»Anne, Sie Ärmste, ich mache Ihnen ein schönes Abendessen«, tröstete Rebecca. Aber sie sagte Gott sei Dank nicht, »das habe ich Ihnen ja gleich gesagt«.
Kapitel 5
Auszug aus einem Brief an Gilbert
Mrs Raymond kam gestern Abend bei mir vorbei, um sich unter Tränen für ihr Verhalten neulich zu entschuldigen.
Ich verzieh ihr gerne, denn auf irgendeine Art muss man sie einfach mögen. Außerdem war sie uns wirklich eine große Hilfe im Theaterklub. Allerdings hütete ich mich diesmal davor, zu sagen: »Wenn Sie samstags ausgehen wollen, bin ich jederzeit bereit, auf Ihre Kinder aufzupassen.« Durch Erfahrung wird man klug, das habe sogar ich mit meinem unverbesserlichen Optimismus und meiner Vertrauensseligkeit inzwischen gelernt.
Zur Zeit gibt es hier viel Gerede um Jarvis Morrow und Dovie Westcott, die, wie Rebecca Dew sich ausdrückt, »seit über einem Jahr verlobt sind, aber keinen Schritt weiterkommen«. Besonders Tante Kate interessiert sich für diese Geschichte, sie ist eine entfernte Verwandte von Dovie. Und sie kann Franklin Westcott nicht leiden, weil sie ihn verdächtigt, seine Frau, mit der sie als Kind eng befreundet war, umgebracht zu haben. Ich interessiere mich aber dafür, weil ich Jarvis sehr gern habe und auch Dovie ganz nett finde, und außerdem scheint es eine Angewohnheit von mir zu sein, mich in anderer
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