Anne in Windy Willows
Leute Angelegenheiten einzumischen - natürlich immer mit den besten Absichten.
Die Sache ist die: Franklin Westcott ist Kaufmann und von Natur aus schwermütig, verbissen, verschlossen und ungesellig. Er wohnt in einem großen alten Haus am Stadtrand, oberhalb des Hafens. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen, weiß aber kaum etwas über ihn, außer, dass er die merkwürdige Eigenart hat, nach allem, was er sagt, unhörbar vor sich hin zu glucksen. Er geht seit langem nicht mehr zur Kirche, und er hat immer alle seine Fenster weit geöffnet, selbst im tiefsten Winter - eine Angewohnheit, die ihn mir fast sympathisch macht. Dabei gilt er jedoch als einer der angesehensten Bürger von Summerside und keine Entscheidung, die die Gemeinde betrifft, darf ohne seine Zustimmung gefällt werden.
Seine Frau lebt nicht mehr. Es heißt, sie hätte bei ihm absolut nichts zu sagen gehabt. Dovie, die eigentlich Sibyl heißt, ist seine einzige Tochter. Sie ist neunzehn Jahre alt und ein liebenswertes und sehr hübsches Mädchen. Sie hat so wundervolle blaue Augen, dass Jen Pringle behauptet, Jarvis sei bloß wegen ihrer Augen in sie verliebt.
Franklin Westcott hatte Dovie bisher jeden Flirt verweigert. Als dann Jarvis Morrow kam und sich für sie interessierte, verbot er ihm das Haus und untersagte Dovie, sich weiter mit »diesem Kerl herumzutreiben«. Aber zu spät, Dovie und Jarvis waren schon bis über beide Ohren ineinander verliebt.
Alle stehen auf ihrer Seite. Keiner kann Franklin Westcott verstehen, denn Jarvis ist ein erfolgreicher Jurist, aus gutem Haus, mit guten Zukunftsaussichten und dazu noch ein sehr netter, anständiger Kerl.
»Eine bessere Partie gibt’s doch überhaupt nicht«, sagte Rebecca Dew neulich. »Jarvis Morrow könnte jedes Mädchen in Summerside haben. Aber Franklin Westcott hat sich einfach in den Kopf gesetzt, Dovie müsse eine alter Jungfer bleiben. Wahrscheinlich soll sie seine Haushälterin spielen, wenn Tante Maggie nicht mehr da ist.«
»Gibt es denn gar niemanden, auf den er hören würde?«, fragte ich.
»An Franklin Westcott kommt niemand heran«, winkte Rebecca ab. »Er hat eine schrecklich sarkastische Art. Wenn er einen anschreit, hat man noch Glück gehabt. Miss Prouty, die einmal bei ihm zum Nähen war, kann ein Lied davon singen, was los war, als er einen seiner Wutanfälle bekam. Er packte alles, was sich in seiner Nähe befand, und schleuderte es einfach aus dem Fenster. Miltons Gedichte landeten auf diese Art und Weise in George Clarks Teich. Schon als Baby soll er so geschrien haben, dass es einem durch Mark und Bein ging. Ich glaube wirklich, die einzige Chance für Jarvis und Dovie ist, wegzulaufen. Jeder hätte dafür Verständnis.« Sie zuckte mit den Schultern und machte sich wieder an ihre Arbeit.
Ich muss irgendetwas tun, ich kann einfach nicht still dasitzen und zusehen, wie die beiden sich ihr Leben verpfuschen. Jarvis Morrow wird schließlich nicht ewig auf Dovie warten. Es geht jetzt schon das Gerücht, dass ihn langsam die Ungeduld packt. Wirklich, Gilbert, die Sache macht mir zu schaffen.
Heute Abend ist Vollmond. Die Weiden vor dem Haus, der Hafen, der alte Friedhof, alles liegt im Mondenschein; auch unsere Liebeslaube, der See der Glitzernden Wasser, der Geisterwald und das Veilchental. Aber Mondschein, den man mit niemandem teilen kann, ist einfach nur - nur Mond.
Ich würde jetzt gerne mit der kleine Elizabeth einen Mondspaziergang machen, so wie auf Green Gables. Aber hier darf sie den Mond höchstens vom Fenster aus sehen. Ich mache mir ein wenig Sorgen um sie. Sie wird bald zehn und die beiden Alten da drüben machen sich nicht die geringsten Gedanken über ihre seelischen Bedürfnisse. Dass sie außer gutem Essen und schönen Kleidern auch noch etwas anderes braucht, auf die Idee kommen sie nicht. Das wird mit den Jahren noch schlimmer werden. Ich frage mich, was für eine Jugend dem armen Kind noch bevorsteht.
Kapitel 6
Jarvis Morrow begleitete Anne von der Schule nach Hause und klagte ihr sein Leid.
»Du wirst mit ihr weglaufen müssen, Jarvis«, meinte Anne am Ende. »Das sagen alle. In der Regel halte ich nichts vom Ausreißen« - (ich komme mir vor wie eine Lehrerin mit vierzigjähriger Erfahrung, dachte Anne und musste heimlich grinsen) - »aber schließlich - die Ausnahme bestätigt die Regel.« Sie schlenkerte fröhlich mit ihrer Tasche.
»Ja, aber wir müssen es beide wollen«, gab Jarvis zu bedenken. »Ich kann nicht allein ausreißen.
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