Anne in Windy Willows
Dovie hat solche Angst vor ihrem Vater, dass ich sie einfach nicht überreden kann mitzumachen. Dabei wäre es noch nicht mal richtiges Ausreißen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als eines Abends zu meiner Schwester Julia, Mrs Stevens, zu kommen. Ich würde den Pfarrer bestellen und er könnte uns dort trauen und dann würden wir unsere Flitterwochen bei Tante Bertha in Kingsport verbringen. Nichts einfacher als das. Aber Dovie traut sich einfach nicht. Die Arme hat so lange unter der Fuchtel ihres Vaters gestanden, dass sie überhaupt keinen eigenen Willen mehr hat.«
»Du musst sie einfach zwingen, Jarvis«, meinte Anne gelassen.
»Du lieber Himmel, was glauben Sie, was ich nicht alles schon versucht habe, Anne? Wenn ich mit ihr zusammen bin, habe ich sie fast so weit, aber kaum ist sie zu Hause, lässt sie mir mitteilen, dass es nicht geht. So merkwürdig es vielleicht klingt, Anne, aber die Ärmste hängt an ihrem Vater und sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass er ihr womöglich nie verzeiht.«
»Du musst ihr eben sagen, dass sie sich zwischen ihrem Vater und dir entscheiden muss.«
»Und wenn sie sich für ihn entscheidet?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Man weiß nie«, sagte Jarvis niedergeschlagen. »Aber irgendwas muss so langsam geschehen. Es kann nicht ewig so bleiben. Ich liebe Dovie und ganz Summerside weiß es. Sie ist wie eine schöne, unerreichbare Rose. Ich muss sie einfach haben, Anne.«
»Ich glaube, mit Poesie kommst du in diesem Fall nicht weit, Jarvis«, sagte Anne kühl. »Du musst schon deinen gesunden Menschenverstand einsetzen. »Sag Dovie, du hättest dieses Hin und Her satt und sie müsste sich endlich entscheiden. Wenn du ihr nicht so viel wert bist, dass sie ihren Vater verlässt, dann hast du wenigstens Klarheit.«
»Sie kennen Franklin Westcott nicht«, stöhnte Jarvis entnervt. »Sie haben keine Vorstellung davon, wie er sein kann. Also, ich werde einen letzten Versuch machen. Sie haben ja Recht, wenn Dovie mich wirklich will, dann wird sie zu mir kommen, und wenn nicht, dann muss ich es eben hinnehmen. Ich glaube, ich habe mich schon lange genug ziemlich lächerlich gemacht.« Er runzelte die Stirn.
»Wenn du das glaubst«, dachte Anne, »sollte sich Dovie in Acht nehmen.«
Kurze Zeit später kam Dovie aufgelöst in Windy Willows an, um sich bei Anne Rat zu holen.
»Was soll ich bloß tun, Anne?«, jammerte sie. »Jarvis will, dass ich mit ihm durchbrenne. Vater ist nächste Woche für einen Tag in Charlottetown, und es wäre wirklich eine Gelegenheit, Tante Maggie könnte keinen Verdacht schöpfen, denn Jarvis würde unsere Heirat bei seiner Schwester arrangieren.« Sie strich sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht.
»Und warum zögerst du, Dovie?«
»Ach, Anne, soll ich es wirklich tun?«, fragte Dovie und warf ihr einen unentschlossenen Blick zu. »Bitte, bitte, entscheiden Sie für mich! Ich bin einfach zu verwirrt.« Sie fing an zu weinen. »0 Anne, Sie kennen meinen Vater nicht. Er hasst Jarvis - warum, weiß ich nicht. Schon als er mich zum ersten Mal besuchen wollte, verbot Vater ihm das Haus und sagte, er würde den Hund auf ihn hetzen, wenn er es noch einmal wagen sollte, zu kommen. Er wird mir nie vergeben, wenn ich mit Jarvis weglaufe.« Sie schniefte in ihr Taschentuch.
»Du musst dich zwischen beiden entscheiden, Dovie«, sagte Anne fest.
»Ja, das sagt Jarvis auch«, weinte Dovie. »Und er meint es ganz ernst, ich habe ihn noch nie so unnachgiebig erlebt. Und ich kann, ich kann ni-i-icht ohne ihn leben, Anne.«
»Dann lebe mit ihm, Dovie. Und nenne es nicht >weglaufen<. Du bleibst doch in Summerside und ihr werdet mit Freunden Hochzeit feiern.« Sie streichelte Dovie tröstend.
»Trotzdem wird Vater es immer so nennen«, sagte Dovie schluchzend. »Aber ich werde auf Sie hören, Anne. Ich bin sicher, Sie würden mir nicht das Falsche raten. Ich werde also zu Jarvis hingehen und ihm sagen, er soll die Papiere besorgen, und wenn Vater in Charlottetown ist, werde ich zu seiner Schwester kommen.« Entschlossen stand sie auf und ging.
Jarvis erzählte Anne ein paar Tage später triumphierend, dass Dovie eingewilligt hätte.
»Wir treffen uns am Dienstagabend und dann gehen wir zu Julia und heiraten«, verkündete er glücklich. »Alle meine Freunde werden da sein und sie wird sich sicher wohl fühlen. Franklin Westcott hat gesagt, ich würde seine Tochter nie bekommen. Er wird sich wundern.«
Kapitel 7
Der Dienstag war ein trüber
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