Anne Rice - Pandora
ich von ihr hatte und das von meiner Ekstase getönt war, zog an meinen Augen vorüber; sie hob den jungen Pharao von seinem Stuhl und zerbrach ihn wie Reisig. Ich sah sie vor dieser Offenbarung, im ersten Augenblick meiner Verzückung, als sie lachend den langen Gang hinunterlief.
Eine leise Angst beschlich mich.
»Was hast du?«, fragte Marius. »Vertraue es mir an.«
»Als ich von ihr trank, sah ich sie als junges Mädchen, sie lachte.« Ich erzählte ihm von der Hochzeit, von den auf uns herabregnenden Rosenblättern und dann von ihrem fremdartigen ägyptischen Tempel mit den rasen-den Anbetern. Schließlich erzählte ich ihm auch noch, wie sie in das Gemach des kleinen Pharao eingedrungen war, dessen Ratgeber ihn vor ihren Göttern gewarnt hatten.
»Sie zerbrach ihn, als wäre er eine hölzerne Puppe.
›Kleiner König. Kleines Königreich‹, sagte sie dabei.«
Ich nahm meine Notizblätter vom Tisch und beschrieb ihm den letzten Traum, den ich gehabt hatte, in dem sie schreiend drohte, sich der Sonne auszusetzen und ihre ungehorsamen Kinder zu bestrafen. Ich schilderte ihm ausführlich alles, was ich im Traum erlebt hatte – auch die vielen Wanderungen meiner Seele.
Das Herz tat mir weh. Denn noch während ich sprach, erkannte ich, wie verletzbar sie war, und sah die Gefahr, die sie verkörperte. Ich fügte noch hinzu, dass ich all das in ägyptischen Schriftzeichen niedergeschrieben hätte.
Ich war erschöpft und wünschte aufrichtig, ich hätte nie die Augen für dieses Leben geöffnet! Ich fühlte wieder die totale Verzweiflung jener durchweinten Nächte in meinem kleinen Haus in Antiochia, als ich gegen die Wände geschlagen und meinen Dolch in die Erde ge-bohrt hatte. Wenn sie doch nur nicht lachend durch diesen Gang gelaufen wäre! Was hatte das Bild zu bedeuten? Und der kleine Kinderkönig, der in seiner Wehrlosigkeit zermalmt wurde?
Die Schlussfolgerung daraus zu ziehen fiel mir leicht genug. Ich wartete nur auf Marius’ schmälernde Kom-mentare. Ich hatte nicht viel Geduld mit ihm.
»Wie interpretierst du denn das Ganze?«, fragte er sanft. Er wollte meine Hand nehmen, doch ich entzog sie ihm.
»Es sind winzige Bruchstücke aus ihrer Erinnerung«, sagte ich. Ich war verzweifelt. »Es ist das, was in ihrem Gedächtnis haften geblieben ist. Nur die Andeutung von einer Zukunft ist darin enthalten. Nur ein verständliches Bild ihrer Wünsche ist vorhanden: unsere Hochzeit, dass wir zusammen sein sollen.« Obwohl meine Stimme sehr traurig klang, fragte ich ihn.
»Warum weinst du schon wieder, Marius?«, fragte ich.
»Sie muss ihre Erinnerungen zusammensuchen wie Blumen, die man aufs Geratewohl aus dem Garten der Welt pflückt, wie Blätter, die in ihre Hände fallen; und aus diesen Erinnerungen band sie mir einen Kranz! Einen Hochzeitskranz! Einen Fallstrick. Ich habe keine wan-dernde Seele. Ich glaube nicht daran. Wenn es so wäre, warum sollte ausgerechnet sie, die so archaisch, so hilflos, so unbedeutend für die Welt ist, so völlig unzeitgemäß und ohne Macht, warum sollte sie diejenige sein, die es weiß, die es mir kundtut? Die Einzige, die es weiß?«
Ich sah ihn an. Er war sehr aufmerksam, aber er weinte. Er zeigte keine Scham deswegen und wollte sich auch offenbar nicht dafür entschuldigen.
»Was hast du vorhin gesagt?«, fragte ich. »›Dass ich Gedanken lesen kann, macht mich um nichts weiser als meine Mitmenschen‹?« Ich lächelte. »Das ist der Schlüssel. Wie sie lachte, als sie mich zu dir führte. Wie sehr sie wollte, dass ich dich in deiner Einsamkeit sah.«
Er nickte nur.
»Ich wundere mich nur«, sagte ich, »wie sie ihr Netz so weit auswerfen konnte, dass sie mich über das wogende Meer hinweg finden konnte.«
»Lucius. Durch ihn hat sie das geschafft. Sie hört Stimmen aus vielen Ländern der Erde. Was sie sehen will, das sieht sie. Eines Nachts hatte ich hier in Antiochia einen Mann heftig erschreckt; er schien mich zu erkennen und stahl sich dann schleunigst fort, als könnte ich ihm gefährlich werden. Ich ging ihm nach, weil ich so ei-ne Ahnung hatte, dass diese übermäßige Furcht etwas zu bedeuten hatte.
Dabei stellte ich bald fest, dass eine große Last sein Gewissen drückte und all seine Gedanken und Regungen verzerrte. Er lebte in Angst und Schrecken, von jemandem aus der Hauptstadt erkannt zu werden. Er wollte fort.
Er ging zu dem Haus eines griechischen Kaufmanns und hämmerte noch spät, bei Fackelschein, ans Tor. Er verlangte die Bezahlung
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