Anne Rice - Pandora
ich Mutter Isis.
Ich wachte auf und griff sofort nach dem großen Was-serkrug neben meinem Bett und trank ihn ganz leer. Ich trank das Wasser, um diesen Durst, den ich in meinem Traum verspürt hatte, zu bekämpfen und zu löschen. Mir wurde fast übel vom Wassertrinken.
Ich zermarterte mir das Hirn. Hatte ich je als Kind solche Träume gehabt?
Nein. Und doch hatten diese Träume die Intensität der Erinnerung! An die Initiationsriten in dem verhängnisvol-len Tempel der Isis, als sie noch Brauch waren. Ich war berauscht gewesen, und triefend vom Blut eines Stiers, hatte ich in wilden Kreisen getanzt. In meinem Kopf war damals nur Raum für die Litaneien der Isis. Uns wurde die Wiedergeburt versprochen! »Bewahrt Schweigen, bewahrt Schweigen …« Wie konnte man von diesen Initiationsriten erzählen, wenn man so benebelt war, dass man sich kaum an sie zu erinnern vermochte?
Isis schenkte mir nun Erinnerungen an die liebliche Musik der Lyras, Flöten und Tambourins, an den hohen ma-gischen Klang der metallenen Saiten des Sistrums, das die große Mutter selbst in der Hand hielt. Nur ver-schwommen erinnerte ich mich an jenen Tanz in Nackt-heit und Blut, an jene Nacht des Aufstiegs zu den Sternen, als ich die Lebenszyklen in ihrem ganzen Ausmaß erlebte und für eine kurze Weile vollkommen verstand, dass der Mond sich immer wieder wandelte und die Sonne in ständigem Wechsel unterging und aufging. Umarmungen von anderen Frauen. Weiche Wangen, Küsse und Körper, die sich im Gleichklang wiegten.
»Leben, Tod, Wiedergeburt – das sind keine Wunder«, sagte die Priesterin. »Sie zu verstehen und anzunehmen, das ist das Wunder. Lasst dieses Wunder in eurer Brust erstehen.«
Sicher hatten wir kein Blut getrunken! Und der Stier –
das war ein nur für die Initiation bestimmtes Opfer. Wir brachten sonst keine hilflosen Tiere zu den mit Blumen beladenen Altären, nein, unsere Segensreiche Mutter verlangte das nicht von uns. Hier nun, allein auf dem Meer, lag ich wach, um den Blutträumen zu entgehen.
Wenn mich die Erschöpfung überwältigte, kam zusammen mit dem Schlaf ein Traum, als hätte er nur darauf gewartet, dass mir die Augen zufielen.
Ich lag in einem goldenen Gemach. Ich trank Blut, Blut von der Kehle eines Gottes, so schien es mir, und Chöre sangen oder psalmodierten – es war ein dumpfer, sich wiederholender Klang, der die Bezeichnung Musik nicht ganz verdiente –, und als ich von dem Blut genug hatte, hob dieser Gott oder was er sonst war, dieses seiden-häutige, stolze Wesen, mich empor und legte mich auf einen Altar.
Deutlich spürte ich den kalten Marmor unter mir. Ich merkte, dass ich keine Kleider trug. Ich empfand keine Scham. Von irgendwoher, aus weiter Ferne, hallte das Weinen einer Frau durch die großen Hallen. Ich war voll mit Blut. Die Sänger näherten sich mit kleinen tönernen Öllampen. Dunkle Gesichter umgaben mich, dunkel genug, um aus fernen Ländern, aus Äthiopien oder Indien, stammen zu können. Oder Ägypten. Schau nur! Mit Schminke umrandete Augen! Ich sah auf meine Hände und Arme. Sie waren dunkel. Aber ich war diese Person, die auf dem Altar lag, und ich sage jetzt Person, weil mir hier in diesem Traum plötzlich die ungetrübte Erkenntnis zuteil wurde, dass ich, wie ich da lag, ein Mann war.
Schmerz überfiel mich. Der Gott sagte: »Das ist nur der Übergang. Du wirst nun von uns allen trinken, nur ein wenig Blut.«
Erst als ich erwachte, verwirrte mich die kurze Umwandlung in das männliche Geschlecht ebenso wie alles andere. Ich war durchdrungen von einem tiefen Verständnis für die ägyptische Kunst, für die Geheimnisse Ägyptens – wie ich sie in den goldenen Statuen erlebte, die auf dem Markt zum Verkauf standen, oder wenn bei einem Gastmahl ägyptische Tänzer auftraten, bewegli-chen Standbildern gleich mit ihren schwarz umrandeten Augen und den schwarzen, aus vielen Zöpfchen beste-henden Perücken, und in ihrer geheimnisvollen Sprache miteinander flüsterten. Was hatten sie von unserer Isis im römischen Gewand gehalten?
Ein Geheimnis quälte mich; etwas griff meine Vernunft an. Genau das, was die römischen Kaiser an den ägyptischen und orientalischen Kulten so gefürchtet hatten, schlug nun über mir zusammen: Mysterium und Emotion, die den Anspruch erhoben, der Vernunft und dem Gesetz überlegen zu sein.
Meine Isis war eigentlich eine römische Gottheit gewesen, eine universale Göttin, unser aller Mutter, deren Verehrung sich in einer griechisch und
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