Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pandora
Vom Netzwerk:
war gehorsam und tugendhaft und hatte sein ganzes bisheriges Leben in ein und demselben Haus in Athen verbracht.

    Ich las diese Aufzählung mit leichtem Spott. Das bemerkte er und warf mir einen frechen Blick zu. Heraus-fordernd verschränkte er die Arme direkt unter diesem beschrifteten Schildchen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
    Plötzlich entdeckte ich auch, warum der Händler, der sich in der Nähe zu schaffen machte, den Griechen nicht zum Aufstehen gezwungen hatte. Der Mann hatte nur ein gesundes Bein. Das linke Bein bestand vom Knie an ab-wärts aus sorgfältig geschnitztem Elfenbein, perfekt mit einem angearbeiteten Fuß nebst Sandale. Richtige Zehen. Natürlich waren Bein und Fuß aus drei aneinander gefügten Elfenbeinstücken zusammengesetzt, die jeweils mit Verzierungen geschmückt waren, und einzelne Teile des Fußes, wie die Fußnägel und die Riemen der Sandale, waren wunderbar geschnitzt.
    Ich hatte noch nie ein derartiges künstliches Körper-glied gesehen: eine solch liebevolle handwerkliche Arbeit, die den bloßen Versuch, die Natur nachzuahmen, weit übertraf.
    »Wie hast du dein Bein verloren?«, fragte ich ihn auf Griechisch. Ich zeigte auf das Bein. Keine Antwort.
    Ich versuchte es noch einmal mit Latein. Immer noch keine Resonanz.
    Der Sklavenhändler erhob sich in seiner Bedrängnis auf die Zehenspitzen und rang die Hände.
    »Meine Dame, er kann Buchführung, er kann jedes Geschäft leiten, er hat eine hervorragende Handschrift und kann genau rechnen.«
    Hmmm. Kein Wort darüber, dass er auch Kinder unter-richten kann? Ich sah wohl nicht wie eine Ehefrau und Mutter aus. Nicht gut.
    Der Grieche grinste höhnisch und wandte seinen Blick ab. Halblaut sagte er in scharf artikuliertem Latein vor sich hin, dass ich, wenn ich Geld für ihn ausgäbe, es für einen toten Mann verschwendete. Seine Stimme klang weich und angenehm, wenn auch müde und verächtlich, seine Aussprache war ungekünstelt und kultiviert.
    Ich warf alle Geduld über Bord und sprach in schnellem Griechisch auf ihn ein.
    »Nun kannst du was von mir lernen, du arroganter athenischer Dummkopf!«, sagte ich mit gerötetem Gesicht, wütend, weil mich sowohl ein Sklave als auch ein Sklavenhändler derart verkannten. »Wenn du überhaupt Griechisch und Latein schreiben kannst, wenn du tatsächlich Aristoteles und Euklid studiert hast, deren Namen übrigens falsch geschrieben sind, wenn du tatsächlich in Athen studiert hast und die Kämpfe auf dem Balkan miterlebt hast, wenn auch nur die Hälfte deines Romans wahr ist, warum willst du dann nicht zu einer Frau gehören, die intelligenter ist, als du je eine getroffen hast, eine, die dich mit Würde und Respekt behandeln wird, als Gegenleistung für Loyalität? Was weißt du von Aristoteles und Plato, das ich nicht wüsste? Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Sklaven geschlagen.
    Du ignorierst die einzige Herrin, bei der dir deine Loyalität jeden erdenklichen Lohn einbringen würde. Diese Tafel da enthält einen Haufen Lügen, ist es nicht so?«
    Der Sklave war verdutzt, jedoch nicht verärgert. Er beugte sich vor und versuchte mich besser einzuschätzen, ohne es zu deutlich zu zeigen. Der Händler bedeutete ihm mit wilden Gesten, dass er endlich aufstehen solle. Als er das tat, überragte er mich mit seiner staunenswerten Größe. Seine Beine waren kräftig und gesund, wenn man von dem elfenbeinernen Unterschenkel absah.
    »Wie wär’s, wenn du mir sagtest, was du wirklich alles kannst?«, schlug ich vor, ins Lateinische überwechselnd.

    Ich wandte mich an den Händler. »Gib mir einen Stift, ich will das verbessern, die falsch geschriebenen Namen meine ich. Jede Chance, die dieser Mann hat, Lehrer zu werden, wird durch diese Fehler zunichte gemacht. Mit dieser Schreibweise steht er ja wie ein Dummkopf da.«
    »Auf der Tafel war nicht genug Platz, um ordentlich zu schreiben!«, erklärte der Sklave plötzlich leise in einem perfekten Latein, das seine Wut durchklingen ließ. Er neigte sich zu mir, als müsste ich Verständnis dafür haben.
    »Schaut Euch dieses winzige Stück Holz an, wenn Ihr so scharfsinnig seid! Seht Ihr die Ignoranz dieses Händlers? Sein bisschen Verstand reicht nicht aus, um zu erkennen, dass er in mir einen Edelstein hat; er glaubt, ich wäre nur ein Stückchen farbiges Glas! Das ist erbärmlich.
    Ich habe hier so viele Gemeinplätze untergebracht, wie ich nur konnte.«
    Ich lachte. Er hatte mich eingewickelt und meine Neugier erregt.

Weitere Kostenlose Bücher