Anne Rice - Pandora
tiefen Schmerz.
»Was bin ich jetzt?«, wiederholte er.
»Wenn ich frei wäre, würde ich von der Hand in den Mund leben, und wenn ich in irgendeinem dreckigen Loch übernachtete, müsste ich fürchten, dass man mir im Schlaf meine Elfenbeinprothese abtrennte und raubte.«
Ich atmete schwer und presste die Hand auf den Mund.
Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er mich ansah, und seine Stimme wurde noch leiser, blieb aber immer noch klar und deutlich: »Oh, ich könnte dort unter den Bogengängen Philosophie lehren, wisst Ihr, über Diogenes schwafeln und so tun, als ginge ich gern in Lumpen wie seine Anhänger heutzutage. Was für ein Rummel wird da gemacht, habt Ihr es bemerkt? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Philosophen gesehen wie in dieser Stadt. Wenn Ihr nach Hause geht, müsst Ihr einen Blick darauf werfen. Wisst Ihr, was man tun muss, um hier Philosophie zu lehren? Man muss lü-
gen. Man muss den jungen Leuten so rasant wie möglich sinnlose Worte entgegenschleudern und den Grübler spielen, wenn man keine Antwort weiß, und man muss sich irgendeinen Blödsinn ausdenken und ihn den alten Stoikern zuschreiben.«
Er brach ab und versuchte sich wieder zu fassen.
Sein Anblick brachte mich fast zum Weinen.
»Aber Ihr seht, ich bin nicht geschickt im Lügen«, sagte er. »Das ist mir auch bei Euch zum Verhängnis geworden, edle Dame.«
Ich fühlte mich wie zerschlagen, meine eigenen Wunden waren wieder aufgebrochen. Die Energie, die mich aus meiner Klausur getrieben hatte, schwand dahin. Aber sicherlich bemerkte er meine Tränen.
Er wandte den Blick wieder dem Forum zu.
»Ich träume von einem ehrbaren Herrn – oder einer solchen Herrin – aus einem ehrbaren Haus. Kann ein Sklave dadurch, dass er sich Gedanken über die Ehre macht, selbst Ehre gewinnen? Das Gesetz sagt Nein. So muss jeder Sklave, der aufgerufen ist, vor Gericht auszu-sagen, gefoltert werden, da er keine Ehre hat! Doch die Vernunft sagt etwas anderes. Ich habe Tapferkeit und Ehre gelernt, und ich kann beides lehren. Und so ist alles, was hier auf dieser Tafel steht, wahr. Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, den prahlerischen Stil zu mäßigen.«
Er neigte den Kopf und sah wieder zum Forum hinüber, als läge dort die verlorene Welt. Dann richtete er sich entschlossen wieder auf. Abermals versuchte er aufzustehen.
»Nein, bleib sitzen«, sagte ich.
»Herrin«, sagte er, »wenn Ihr meine Dienste für ein Haus mit schlechtem Ruf benötigt, muss ich Euch sagen
… wenn dort junge Mädchen, wie Ihr sie gerade erworben habt, gequält und missbraucht werden, wenn Ihr von mir verlangt, dass ich ihre Reize auf den Straßen ausru-fen soll, so werde ich es nicht tun. Es erscheint mir ebenso unehrenhaft wie Stehlen oder Lügen. Wozu braucht Ihr mich?«
Er hielt seine Tränen zurück, sie standen nur noch zwischen ihm und seinem Blick auf die Welt um ihn herum.
Sein Gesicht drückte Gelassenheit aus.
»Sehe ich wie eine Hure aus?«, fragte ich geschockt.
»Ihr Götter, ich habe meine besten Gewänder angelegt.
Ich tue mein Bestes, um in diesem Seidenstaat ungeheuer respekteinflößend auszusehen! Siehst du Grausamkeit in meinen Augen? Glaubst du nicht, dass vielleicht gerade die gemäßigte Seele das Leid überwin-det? Man braucht nicht nur auf dem Schlachtfeld Mut.«
»Nein, Herrin, nein!«, stimmte er zu. Es tat ihm so Leid.
»Warum wirfst du mir dann solche Beleidigungen an den Kopf?«, fragte ich ihn, zutiefst verletzt. »Und noch etwas, ich stimme mit dem überein, was du da geschrieben hast; unsere römischen Dichter reichen an die griechischen nicht heran. Ich habe keine Ahnung, wie die Zukunft unseres Imperiums aussehen wird, und das belastet mich ebenso wie früher meinen Vater und meinen Großvater! Warum? Ich weiß es nicht!« Ich wandte mich ab, als wollte ich fortgehen, wenn ich auch nicht die Absicht hatte! Aber er war mit seinen Beleidigungen einfach zu weit gegangen.
Er beugte sich über den Tisch zu mir.
»Herrin«, flüsterte er, sogar noch leiser und beflissener.
»Vergebt mir meine unbesonnenen Worte. Ihr seid ein einziger Widerspruch. Euer Gesicht ist übermäßig geschminkt, und ich glaube, Euer Lippenrot ist verschmiert.
Ihr habt Rouge an den Zähnen. Eure Arme sind nicht ge-pudert. Ihr tragt drei Seidengewänder übereinander, und dennoch kann ich hindurchsehen! Eure Haare fallen Euch in zwei Zöpfen nach Art der Barbarinnen auf die Schultern, und daraus rieseln Unmengen von kleinen
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