Anne Rice - Pandora
mir gut. Ich befand mich in einem Zustand des Wahnsinns, aber es war kein unkontrollierter Zustand. Ich lag und starrte vor mich hin.
Eines wusste ich: Ich wollte raus aus diesem Tempel.
Er gefiel mir nicht. Nein, das hier war keine gute Idee gewesen.
Ich hasste mich plötzlich dafür, dass ich mich dieser Frau gegenüber so verletzlich gezeigt hatte, wie sie auch sein mochte, und die Atmosphäre der Blutträume wehte mich an.
Ich schlug die Augen auf. Die Priesterin beugte sich über mich. Ich sah die weinende Königin meiner Albträume. Ich wandte den Kopf ab und machte die Augen wieder zu.
»Beruhige dich«, sagte die Priesterin mit dieser auf Wirkung bedachten Stimme. »Du hast nichts Unrechtes getan«, fügte sie hinzu.
Dass eine solche Stimme aus diesem bemalten Antlitz, aus dieser Gestalt kommen konnte, schien mir absurd, und doch war sie ganzdeutlich.
»Zuerst einmal«, sagte die Priesterin, »musst du einsehen, dass die Mutter Isis alles vergibt. Sie ist die Mutter der Gnade.« Dann fuhr sie fort: »Deiner Beschreibung nach bist du wesentlich gründlicher initiiert worden als die meisten anderen hier oder sonstwo. Du hast lange gefa-stet. Du hast in dem heiligen Blut des Stieres gebadet.
Du musst auch den Zaubertrank genossen haben. Du hast geträumt und deine Wiedergeburt erlebt.«
»Ja«, stimmte ich zu und versuchte, die einst verspürte Ekstase, dieses unbezahlbare Geschenk des Glaubens, wieder zu beleben. »Ja. Ich sah die Sterne und wunderbare Blumenfelder, solche Felder …«
Es hatte keinen Zweck. Diese Frau jagte mir Angst ein, und ich wollte hier weg. Ich wollte heim und alles Flavius beichten und es so weit kommen lassen, dass ich mich an seiner Schulter ausweinen konnte.
»Ich bin von Natur aus nicht fromm«, gestand ich. »Ich war jung. Ich mochte die unabhängigen Frauen, die dorthin kamen, die Frauen, die schliefen, mit wem sie wollten, die Huren Roms, die Frauen, die Freudenhäuser unterhielten, ich mochte Frauen, die sich ihre eigenen Gedanken machten und an dem interessiert waren, was im Imperium vor sich ging.«
»Du kannst dich auch hier an solcher Gesellschaft er-freuen«, sagte die Priesterin, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und fürchte nicht, dass deine damaligen Ver-bindungen zum Tempel euren Untergang in Rom zur Folge hatten. Wir haben genügend Berichte, die besagen, dass die Edlen Roms von Tiberius nicht verfolgt wurden, als er den Tempel zerstören ließ. Es sind immer nur die Armen, die leiden: das Straßenmädchen und der einfache Weber, der Barbier und der Maurer. Keine adlige Familie wurde im Namen der Isis verfolgt. Das weißt du auch. Einige Frauen flohen nach Alexandria, weil sie den Kult nicht aufgeben mochten, doch sie waren niemals in Gefahr.«
Die Träume rückten näher. »Oh, du, Mutter des Gottes«, flüsterte ich.
Die Priesterin setzte ihre Rede fort.
»Du warst genau wie die Mutter Isis das Opfer einer Tragödie. Und genau wie die Mutter Isis musst auch du deine Kräfte sammeln und deinen Weg allein gehen, wie Isis es tat, als ihr Gemahl, Osiris, erschlagen wurde. Wer half ihr, als sie ganz Ägypten nach dem Körper ihres er-mordeten Gatten absuchte? Sie ging ihren Weg ganz allein. Sie ist die höchste unter den Göttinnen. Als sie den Leichnam ihres Gemahls, Osiris, entdeckte und kein Zeugungsorgan mehr fand, mit dem sie hätte geschwängert werden können, entnahm sie den Samen unmittelbar seinem Geist. So kam es, dass der Gott Horus von einer Frau und einem Gott geboren wurde. Es lag in der Macht der Isis, den Geist von dem Toten zu trennen. Isis brachte auch den Gott Ra durch eine List dazu, seinen Namen preiszugeben.«
Das war genau die alte Sage.
Ich wandte meinen Blick von der Priesterin ab. Ich war einfach nicht im Stande, dieses bemalte Gesicht anzu-schauen! Bestimmt spürte sie meinen Abscheu. Ich durfte sie nicht verletzen. Sie meinte es gut! Es war nicht ihre Schuld, dass sie mir wie ein Ungeheuer vorkam. Warum war ich nur hierher gekommen?
Ich war ganz benommen. Im Raum herrschte ein weiches goldenes Licht, dashauptsächlich durch die drei Portale fiel, die nach altägyptischer Art gebaut waren, an der Basis breiter als im oberen Teil, und ich brachte dieses Licht dazu, alles vor meinen Augen verschwimmen zu lassen. Ich bat das Licht darum.
Ich spürte die Hand der Priesterin. Welch seidige Wär-me. So schön, ihre Berührung, ihre Sanftheit.
»Glaubst du das alles?« Ich flüsterte plötzlich.
Sie überhörte die Frage. Ihr
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