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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pandora
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drehte sich zu mir um und funkelte mich an, als ich näher kam.
    Angst. Erdrückende Angst. Flieh von hier! Vergiss die Opfergabe; oder sie sollen sie an deiner statt darbringen.
    Geh nach Hause. Flavius wartet. Verschwinde hier!
    Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich ließ zu, dass der Priester mich beiseite zog.
    »Hör mir gut zu«, sagte er leise. »Ich werde dich nun in das Heiligtum bringen. Ich lasse dich zur Mutter sprechen. Aber wenn du wieder hinausgehst, musst du zu mir kommen! Geh nicht fort, ohne bei mir gewesen zu sein.
    Du musst mir versprechen, jeden Tag wiederzukommen, und wenn du weiter solche Träume hast, wirst du sie uns darlegen. Da ist jemand, dem sie beschrieben werden sollten, das heißt, wenn die Göttin sie nicht aus deinem Geist vertreibt.«
    »Natürlich werde ich mit jedem sprechen, der mir helfen kann«, versprach ich. »Ich hasse diese Träume. Aber warum bist du so unruhig? Fürchtest du mich?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte dich nicht, aber es gibt etwas, das ich dir vertraulich mitteilen muss. Ich muss mit dir sprechen, entweder heute oder morgen. Ich muss mit dir reden! Doch nun geh hinein zur Mutter, danach komm zu mir.«
    Die anderen führten mich in das Gemach des Heiligtums; der Schrein war mit weißem Leinen verhängt. Meine Opfergaben lagen schon dort, ein aus süß duftenden weißen Blüten geflochtener Kranz und der ofenwarme Brotlaib. Ich kniete nieder. Unsichtbare Hände zogen die Vorhänge zurück, und ich fand mich allein in der Kammer, auf Knien vor der Regina Coeli, der Königin des Himmels.
    Der nächste Schock:
    Vor mir stand die altägyptische Statue der Isis, aus dunklem Basalt gehauen. Ihre Haartracht war lang, eng anliegend und hinter die Ohren gesteckt. Auf dem Kopf trug sie eine große, runde Scheibe zwischen zwei Hörnern. Ihre Brüste waren nackt. Auf ihrem Schoß saß der erwachsene Pharao, ihr Sohn Horus. Sie bot ihm ihre rechte Brust dar, um ihm ihre Milch zu geben.
    Verzweiflung packte mich! Dieses Bildnis bedeutete mir nicht das Mindeste! Ich forschte darin nach der Wesenheit der Isis.
    »Hast du mir die Träume geschickt, Mutter?«, flüsterte ich.
    Ich breitete die Blumen aus. Ich brach das Brot.
    Von der gleichmütigen uralten Statue drang kein Laut in die Stille.
    Ich warf mich auf den Boden und streckte die Arme aus. Und in der Tiefe meiner Seele versuchte ich mir die Worte abzuringen: Ich nehme alles hin, ich glaube, ich bin dein, ich brauche dich; ich brauche dich!
    Aber ich konnte nur weinen. Alles war für mich verloren.
    Nicht nur Rom und meine Familie, sondern sogar meine Isis. Diese Göttin hier verkörperte den Glauben einer anderen Nation, eines anderen Volkes.
    Ganz allmählich überkam mich eine innere Ruhe.
    So ist es nun eben, dachte ich. Der Kult meiner Mutter Isis lebt überall, im Norden und Süden, in Ost und West.
    Allein der Geist dieses Kultes verleiht Kraft. Ich muss nicht buchstäblich die Füße dieser Figur küssen. Darum geht es nicht.
    Ich hob langsam den Kopf und hockte mich auf die Fersen. Und ich hatte eine wirkliche Erleuchtung. Ich kann sie nicht genau schildern. Ich nahm sie voll und ganz wahr, im Bruchteil einer Sekunde.
    Mir kam die Erkenntnis, dass alle Dinge Symbole für anderes, alle Rituale nur Spiel eines anderen Geschehens waren! Ich erkannte, dass wir mit unserem prakti-schen menschlichen Geist diesen Dingen eine Seelentiefe verliehen, damit die Welt nicht ohne Sinn war.
    Und dieses Standbild hier symbolisierte die Liebe. Liebe, stärker als Grausamkeit, stärker als Ungerechtigkeit.
    Liebe, stärker als Einsamkeit und Verdammung.
    Das war das Einzige, was zählte. Ich hob meinen Blick zu dem Antlitz der Göttin, und nun erkannte ich sie! Ich betrachtete den kleinen Pharao, die dargebotene Brust.
    »Ich bin dein!«, sagte ich emotionslos.
    Ihre ausgeprägten urägyptischen Gesichtszüge waren kein Hindernis mehr für mein Herz. Ich betrachtete die rechte Hand, mit der sie ihre Brust hielt.
    Liebe. Liebe verlangt Kraft von uns; sie verlangt Stand-haftigkeit; sie verlangt, dass wir alles Fremde hinnehmen.
    »Befreie mich von diesen Träumen, Himmlische Mutter«, sagte ich. »Oder enthülle mir ihren Sinn. Und den Pfad, dem ich folgen muss. Bitte.«
    Dann murmelte ich in meiner Sprache eine alte Litanei: Du bist die, die Himmel und Erde getrennt hat, Du steigst mit dem Hundsstern am Himmel auf, Du gibst Kraft den Gerechten,
    Du flößt den Kindern die Liebe zu ihren Eltern ein, Du gewährst Gnade

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