Annebelle - sTdH 2
übrigblieb, wenn er von seinem Kammerdiener für die Nacht
entkleidet wurde.
Doch einen
Vorteil, dachte Annabelle, hatte dieser pompöse Stil, soweit es das weibliche
Geschlecht betraf – man konnte wenigstens die wirklichen Damen erkennen.
Bei der
üblichen Abendmode war das nämlich nicht immer möglich. Ein Theater hatte
versucht, elegante Halbweltdamen von seiner Schwelle
fernzuhalten, und eigens zu diesem Zweck zwei Türhüter angestellt.
Man mußte
den Versuch aber noch am gleichen Abend abbrechen, nachdem die beiden Männer
einige Ladys von sehr hohem Rang in die Wachstube abgeführt hatten. Wie konnte
man Dirnen von Aristokratinnen unterscheiden, wenn die einen wie die anderen
halbnackt herumliefen?
Auch die
Wiederkehr höflicher Manieren war erfreulich. Vielfach hatte nämlich brutales
Benehmen gegenüber Frauen die zeremoniösen Sitten und die Wohlerzogenheit des
vorigen Jahrhunderts abgelöst.
Nachdem sie
eine Dreiviertelstunde auf der Treppe gestanden hatte und hin und her gedrängt
worden war, sah Annabelle sich endlich Königin Charlotte gegenüber.
König
George war natürlich nicht anwesend und würde es wohl auch nie wieder sein.
Sein Wahnsinn schien unheilbar.
Man hatte
seine Krankheit so lange wie möglich ignoriert, doch als er schließlich einmal
aus seiner Kutsche stieg, mit herzlichem Händedruck die Äste eines Baumes
begrüßte und der Ansicht war, er erweise dem König von Preußen seine Reverenz,
entschied man, nun ginge es zu weit. Lord Sheffield berichtete, der König könne
noch immer recht heiter sein. »Die Krankheit des Königs ist nicht Melancholie
oder Bösartigkeit«, gab er bekannt. »Manchmal ist sie sogar recht amüsant. Er
bildet sich ein, London sei überschwemmt, und beordert seine Yacht dorthin. In
einem seiner Monologe sagte er: ›Ich hasse niemanden. Warum sollte jemand
mich hassen?‹ Nachdem er dann eine Weile nachgedacht hatte, fügte er hinzu:
›Ich bitte um Verzeihung, aber ich hasse doch jemanden – den Marquis von
Buckingham.‹«
Über die
strenge kleine Königin, die ihren Hof in der steifen und formellen Art der
deutschen Höfe regierte, hatte Annabelle viele Geschichten gehört.
Sie wurde
nach vorn geführt und machte ihren Hofknicks vor der Königin und den
königlichen Prinzessinnen. Königin Charlotte sah sie säuerlich an, schnupfte,
sagte verdrießlich zum Marquis: »Wie geht's?« und wandte dann ihre
Aufmerksamkeit den nächsten in der Reihe zu.
Annabelle
war froh, gehen zu können. Sie brauchten allerdings eine weitere
Dreiviertelstunde, um die Treppe zu überwinden; dann mußten sie eine Stunde
auf ihren Wagen warten, und weitere eineinhalb Stunden dauerte es, die Mall zu
durchfahren.
»Wie froh
ich sein werde, nach Hause zu kommen!« gähnte Annabelle. »Ich möchte es mir bequem machen. Ich komme mir vor wie in einem blumenbekränzten Käfig.«
»Zuerst
werden wir ein einfaches Nachtessen einnehmen«, sagte der Marquis. »Dieser
ganze Trubel mit Verbeugungen und Kratzfüßen macht mir Appetit.«
Das
einfache Nachtessen bestand, wie sich herausstellte, aus Suppe, Fisch,
Hühnerfrikassee, Koteletts, Wildbret, Kalbfleisch, Hase, Gemüsen aller Art,
Torte, Melone, Ananas, Weintrauben und Pfirsichen.
Sechs
Diener, ein Butler und ein Kämmerer warteten ihnen auf. Der Kämmerer war ein
unabdingbarer Bestandteil im Gefolge jedes Gentleman. Bei Einladungen hatte man
ihn mitzubringen, damit er während der Mahlzeit hinter dem Stuhl seines Herrn
stand und ihn auffing, falls er betrunken umfiel.
Annabelle
hatte schnell gelernt, eine ziemliche Menge Wein zu trinken, ohne sich
beschwipst zu fühlen. Champagner, auch das hatte sie gelernt, war ordinär. Man
trank roten Bordeaux zum Fleisch und Tokaier zum Pudding. Rheinwein, Sherry
und Portwein oder Portwein mit Wasser konnten während der ganzen Mahlzeit
serviert werden, wenn auch Brummel durchzusetzen versuchte, daß Port – »ein
starkes, berauschendes alkoholisches Getränk, das von den niederen Ständen in
großen Mengen genossen wird« – erst zum Käse gereicht wurde.
Entspannt
und glücklich begann Annabelle den Marquis mit Geschichten aus ihrem
häuslichen Leben zu unterhalten. Sie erzählte von ihren häufigen Fehden mit
Deirdre ,die immer von Minerva geschlichtet werden mußten.
»Du vermißt
deine Schwester, nicht wahr?« fragte er.
»O ja«,
sagte Annabelle. »Ich wünschte, sie könnte mich in meiner Hoftoilette sehen.«
»Ich hatte
den Eindruck, meine Liebste, daß es eine
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