Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
jedenfalls schon mal im Kasten.
*
Thomas war immer so behutsam, wenn sie miteinander schliefen. Am Anfang hatte Annika es wunderbar gefunden, dass er so zärtlich und gefühlvoll war, vielleicht vor allem deshalb, weil es so anders war als bei Sven mit seiner Rohheit. Aber mit der Zeit wurden ihr Thomas’ federleichte Berührungen zunehmend gleichgültiger, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, dass er sie mal so richtig nehmen sollte, fest und hart, als Zeichen, dass er sie wirklich wollte.
Sie holte tief Luft und berührte das »Anrufen«-Icon auf dem Handydisplay. Es klingelte in der Villa draußen in Vaxholm, lange Signale, die über den Parkettboden hallten und die Prismen im Kristallkronleuchter erzittern ließen.
»Doris Samuelsson«, meldete sich Thomas’ Mutter. Sie klang leiser als sonst, zögernder, als hätte ihre selbstverständliche Überlegenheit, Doris Samuelsson zu sein, einen Knacks bekommen.
»Hallo, hier ist Annika. Störe ich?«
Doris räusperte sich.
»Hallo, Annika«, sagte ihre Schwiegermutter. »Nein, nein, du störst nicht. Wir haben gerade zu Abend gegessen, du kommst also nicht ungelegen. Hast du etwas von Thomas gehört?«
»Nicht seit dem Video, von dem ich dir am Samstag erzählt habe«, sagte Annika. »Aber es gibt Neuigkeiten, die mit ihm zusammenhängen. Eine der anderen Geiseln, der Spanier Alvaro Ribeiro, wurde von den Entführern freigelassen und ist wohlauf.«
Doris atmete hörbar aus.
»Das wurde aber auch Zeit, dass diese Leute Vernunft annehmen. Wie gut, dass sie offenbar begriffen haben …«
Annika legte die Hand an die Stirn.
»Doris«, fiel sie ihr ins Wort, »Alvaro Ribeiros Bericht über die Situation der Geiseln ist nur schwer zu ertragen. Sie sind Gewalt und Hunger und Übergriffen ausgesetzt. Thomas … wurde auch bedroht und gezwungen, schlimme Dinge zu tun.«
Doris schwieg einen Moment.
»Erzähl«, sagte sie.
Lautloses Atmen.
»Sie haben gedroht, ihm beide Hände abzuhacken, wenn er nicht tut, was sie sagen.«
Ein Keuchen am anderen Ende.
»Haben sie es getan? Haben sie ihn verstümmelt?«
»Nein«, sagte Annika. »Nicht, soweit wir wissen. Der Spanier hat nichts davon gesagt. Ich weiß nicht, wie detailliert die Zeitungen morgen davon berichten, aber …«
Sie verstummte, konnte es nicht über die Lippen bringen zu sagen: Dein Sohn hat eine gekreuzigte Frau vergewaltigt, genau die Frau, wegen der er nach Liboi mitgefahren ist, weil er sie verführen wollte.
»Sie wurden zu sexuellen Übergriffen gezwungen«, sagte sie. »Sie wurden misshandelt, dem Spanier haben sie mit Fußtritten zwei Rippen gebrochen. Man hat sie gezwungen, Essen voller Maden zu sich zu nehmen …«
»Das reicht«, sagte Doris leise. »Ich verstehe. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss …«
»Da ist noch etwas«, sagte Annika schnell. »Ich kann die Kinder nicht hier in der Stadt behalten. Die Reporter werden ihnen keine Ruhe lassen, und ich will nicht, dass sie in der Schule sind, wenn der Bericht des Spaniers veröffentlicht wird.«
»Ähurm«, sagte Doris auf ihre unnachahmliche, verdrießliche Art.
»Außerdem hoffen wir, dass wir uns bald auf eine Lösegeldsumme einigen können«, fügte Annika hinzu, »Und das bedeutet, dass wir nach Kenia fliegen müssen …«
»Lösegeld? Ist das dein Ernst? Du willst diesen Mördern wirklich Geld zahlen?«
Annika schluckte.
»Der Lebensgefährte des Spaniers ist gerade in Kenia. Er hat gestern Abend eine Million Dollar in einem Müllcontainer am Stadtrand von Nairobi deponiert. Das ist der Grund, warum sie den Spanier freigelassen haben. Wir rechnen damit, dass wir hinfliegen müssen, hoffentlich noch diese Woche.«
»Ich habe so viel zu tun«, sagte Doris. »Wir erwarten Mittwoch und Freitag Gäste zum Essen, und ich muss das ganze Haus auf Vordermann bringen. Ich hoffe, du verstehst das.«
Annika schloss die Augen.
Um Eleonors Kinder hättest du dich gern gekümmert, dachte sie, aber Eleonor wollte keine, Eleonor wollte ihre Figur nicht ruinieren und ihre Karriere auch nicht, aber das hat sie dir ja nie erzählt. Sie hat nur ein bisschen traurig gelächelt, wenn du gefragt hast, wie es denn mit Kindern aussähe und ob sie und Thomas darüber gesprochen hätten, und deshalb hast du gedacht, sie könnte keine bekommen, und dann warst du so voller Mitgefühl. Deshalb hast du zu Thomas gesagt, »für Nachwuchs sorgen kann jeder Hund, aber sich darum kümmern, das ist was ganz anderes«. Das bin
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