Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
einen Schatz. Ich passte sehr mit den Schnüren auf und wischte den Drachen hinterher immer schön sauber.
Einmal, als ich Masern hatte und im Bett bleiben musste, hat Holger sich meinen Drachen einfach geholt. Er lief mit ihm zum Wald hinter der Jugendherberge, denn dort war er von unserem Haus aus nicht zu sehen. Der Drachen blieb an der Spitze einer Kiefer hängen, die Plastikfolie zerriss, und die Schnur ging ab.
Ich habe Holger nie verziehen, dass er mir meinen Drachen kaputtgemacht hat. Nie habe ich mich freier gefühlt, als wenn ich ihn steigen ließ. Das Weltall war hell und weiß und unendlich, ich sehe es immer noch vor mir, ich sehe meinen Drachen zwischen den Wolken, er fliegt und tanzt und kommt immer näher. Auf der Erde ist alles schwarz, aber um den Drachen leuchten die Sterne, sie funkeln und glitzern, er öffnet eine Tür zur Wahrheit, und bald ist er hier.
TAG 7
Dienstag, 29. November
DIE HÖLLE
AUF ERDEN
Ein Inferno von Brutalität, Hunger und
Vergewaltigung – sensible Leser seien gewarnt
Anders Schyman nickte, der Balanceakt war geglückt. Sjölander und die junge Michnik hatten jedes einzelne groteske Detail aus dem Bericht des Spaniers untergebracht, ohne sich am Elend zu weiden (zumindest wurde es nicht allzu offensichtlich). »Alvaro Ribeiro, 33, ist ins Leben zurückgekehrt. Er hat eine Reise in die Hölle und zurück gemacht. Zusammen mit den übrigen Geiseln in Ostafrika, unter ihnen der schwedische Familienvater Thomas Samuelsson, musste er Grausamkeiten erdulden, die jenseits aller Vorstellungskraft liegen …«
Schyman kratzte sich am Bart. Das hier war zwar nicht pulitzerpreisverdächtig, aber es ging. Besonders gelungen war der Kniff, sensible Leser vor dem Inhalt des Artikels zu warnen, das machte neugierig und wirkte vertrauensbildend. Die Gruppenvergewaltigung und der Mord an der Engländerin wurden als »ein sadistischer und mit teuflischer Grausamkeit ausgedachter Übergriff« beschrieben. Auch die Fotos waren gut: eine unterbelichtete Aufnahme vom verdreckten, von Mückenstichen zugeschwollenen Gesicht des Spaniers, vermutlich mit einer Handykamera geschossen (sie hatten die Rechte für Schweden von El País gekauft), und ein Archivfoto einer staubigen Straße in Kismayo (das wiederum war fast gratis gewesen). Der Artikel ging über vier Seiten: die Sechs, die Sieben, die Acht und die Neun. Auf der Zehn und der Elf prangte ein Videostandbild, das den Entführer Grégoire Makuza zeigte.
DER SCHLÄCHTER VON KIGALI
lautete die Überschrift.
Der Artikel enthielt kaum Fakten über den Mann selbst (aus dem einfachen Grund, dass sie, außer dass er aus einem Vorort der Hauptstadt Ruandas kam, nichts über ihn wussten), sondern konzentrierte sich auf den Völkermord in dem zentralafrikanischen Staat vor fast zehn Jahren. Also häuften sich auch in diesem Artikel die Grausamkeiten. Das war unvermeidlich und auch begründet. Damit die Leser verstanden, wie dieser Mann zu einem solchen Monster werden konnte, musste sein Leben in einen sozialen und historischen Zusammenhang gestellt werden.
Schyman las den Artikel noch einmal. Bei dem Text wurde ihm jetzt noch genauso schlecht wie am Abend zuvor, als er ihn in der Druckfahne gelesen hatte.
937 000 Menschen, die meisten davon Tutsi, waren vom 6. April bis Anfang Juli 1994 von den Hutu-Milizen ermordet worden. Die Mehrzahl davon wurde mit Macheten erschlagen. Vergewaltigungen waren eher die Regel als die Ausnahme. Rund eine halbe Million Frauen und Mädchen (zum Teil noch Kinder) waren während der Unruhen vergewaltigt worden – und das nicht nur von der Miliz. Teil des Terrors war, Familienmitglieder zu zwingen, sich gegenseitig zu vergewaltigen. Deshalb tauschten Nachbarn in den Nächten oft ihre Plätze, um wenigstens die Vergewaltigung der Mädchen durch die eigenen Väter und Brüder zu verhindern (eine Google-Suche mit den Stichworten Rwanda forced incest ergab über 5,6 Millionen Treffer). Familienmitglieder wurden sogar gezwungen, einander zu essen (das hieß forced cannibalism und ergab mit dem Zusatz Rwanda 2,7 Millionen Treffer). Verstümmelungen waren an der Tagesordnung. Sie hackten den Leuten Hände, Füße, Arme und Beine, aber auch Brüste und Penisse ab, Vaginas wurden herausgeschnitten und schwangere Frauen aufgeschlitzt. Sie spießten vergewaltigte Frauen auf, bis sie verbluteten … Er schob die Zeitung beiseite, matt vor Ekel. Stattdessen griff er nach der Morgenausgabe des Konkurrenten
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