Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
»Die meisten Kidnapper sind ziemlich zivilisiert. Sie betrachten die Sache als reines Geschäft, und da ist es wichtig, nicht zu viele Geiseln umzubringen. Das wäre bad business . Schlecht fürs Geschäft.«
Annika schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag.
Unter ihnen staubte die trockene Erde. Manchmal blitzte etwas zwischen den Büschen auf, ein Sonnenstrahl, der auf ein Stück Blech traf, auf ein Autodach, auf ein Wasserloch. Hier und da sah sie kleine Ansammlungen von Hütten inmitten grauer Ringe.
»Wann sollten Sie die Koordinaten erhalten?«, fragte der Pilot.
»Während des Flugs. Die Geiselnehmer haben sich nicht genauer geäußert. Ich habe ihnen unsere Startzeit und die Kennung Ihrer Maschine mitgeteilt, sie wissen also, dass wir unterwegs sind.«
Halenius griff zu seinem Handy.
»Hier ist kein Empfang. Wo ist der nächste Sendemast?«
»Dadaab.«
Eine rote Lampe blinkte intensiv am Armaturenbrett. William Grey klopfte leicht dagegen.
»Sehen Sie mal, das Radar wird stärker, je mehr wir uns der Grenze nähern. Die wissen, dass wir kommen.«
»Wer?«, fragte Annika.
»Die Amis. Sie haben einen inoffiziellen Stützpunkt an der Küste. Die haben uns unter Kontrolle.«
Das musste der Militärstützpunkt sein, den Halenius erwähnt hatte, von dem aus der Helikopter nach Somalia geflogen war, um den Spanier zu holen.
»Wir dürfen nicht auf dem Radar erscheinen«, sagte Halenius. »Das haben die Entführer ausdrücklich betont. Wie können wir das Geld übergeben, ohne dass uns jemand sieht?«
»Wir gehen kurz vor Liboi runter, landen aber nicht. Stattdessen fliegen wir in etwa dreißig Metern Höhe unter dem Radar hindurch zur angegebenen Stelle. Zurück denselben Weg, bei Liboi steigen wir wieder und schalten das Radar ein.«
Dreißig Meter, das klang enorm niedrig.
William Grey lachte.
»Keine Sorge. Bei meinen Spritzeinsätzen fliege ich sechs Meter über dem Boden. Wenn Sie nach rechts schauen, sehen Sie die Straße zwischen Garissa und Liboi. Die ist nur mit Allradantrieb befahrbar. Da liegt Dadaab.«
Zu beiden Seiten des Flugzeugs breitete sich ein Meer von Dächern aus, schnurgerade Reihen, die verrieten, dass dies ein von der UN sanktionierter Slum war, nicht so improvisiert und chaotisch wie der in Kibera.
»Holy Moses« , knurrte der Pilot im Kopfhörer. »Das hat sich seit dem letzten Mal ja enorm vergrößert.«
Die Dächer reichten bis zum Horizont.
»Dürre, Hunger und Bürgerkrieg«, sagte Halenius. »Die Organisation Ärzte ohne Grenzen schätzt, dass es zum Jahresende fast eine halbe Million Menschen sein werden.«
Im selben Moment blinkte das Display seines Handys auf. Er starrte darauf und wurde wieder so weiß um den Mund, dass Annikas Herz zu rasen begann.
»Fliegen Sie zu 0.00824, 40.968018«, las er langsam und deutlich vor.
»Und weiter?«, fragte Annika.
»Frau Annika soll das Geld auf dem Fahrersitz abstellen.«
Sie presste die Kopfhörer fester auf die Ohren.
»Noch mal.«
»Du sollst das Geld auf dem Fahrersitz abstellen.«
»Fahrersitz?«
»Mehr steht hier nicht.«
Der Übergabeort also. Auf dem Fahrersitz. Sie war unfähig zu atmen.
William Grey drückte konzentriert an einem Instrument am Armaturenbrett herum und kratzte sich am Kopf.
»Probleme?«, fragte Halenius.
»Die haben ein richtiges Rattenloch ausgesucht«, sagte er. »Bis zur somalischen Grenze sind es nur ein paar hundert Meter, genau auf dem Äquator. Hier, Breitengrad 0.00, Längengrad 40.9.«
»Südlich von Liboi?«
»Ungefähr vierzig Kilometer südlich, mitten in der Halbwüste. Wollen Sie es genau wissen?«
Halenius schüttelte den Kopf und lehnte sich in den Sitz zurück. Der Pilot griff nach seinem Funkgerät.
»This is five Y AYH, starting our decent to Liboi« , teilte er irgendeinem Kontrollturm mit.
Das Motorengeräusch änderte sich, die Erde kam näher, das Flugzeug schaukelte und hüpfte in den Luftlöchern. Eine Reihe von Kamelen, die auf dem Weg nach Süden waren, legten ärgerlich die Ohren an. Annika sah ein Zelt mit dem Aufdruck UNHCR , der Flüchtlingsorganisation der UN . Vielleicht hatte Frida entschieden, dass es ausgerechnet hier sein sollte.
Liboi tauchte unter ihnen auf, eine Straße mit Hütten und einigen Betongebäuden. Das Flugzeug schwebte über einer holprigen Piste ein, landete jedoch nicht, sondern flog wenige Meter über dem Boden in südliche Richtung weiter.
Annika legte die IKEA -Decke unten ins Flugzeug
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