Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
schlingerte ein paar Meter durch die Schneewehen. Nicht einmal die Stadtautobahn Essingeleden war geräumt. Ob nun der Klimawandel oder der neue Rechtsruck in der Kommunalpolitik für die Schneewälle auf der Autobahn verantwortlich war – möglich war alles. Annika seufzte, griff nach ihrem privaten Handy, rief die zuletzt gewählte Nummer an und lauschte dem Rauschen von Stürmen und Satelliten. Die Verbindung wurde hergestellt, ohne dass ein Rufzeichen zu hören gewesen wäre.
»Hello, you have reached Thomas Samuelsson at the Department of Justice …«
Genervt und eine Spur beschämt beendete sie die Verbindung. Ihr Mann war schon seit vorgestern Abend nicht mehr an sein Handy gegangen. Jedes Mal, wenn sie versucht hatte, ihn zu erreichen, landete sie bei dieser manierierten Mailboxansage, die er stur auf Englisch beibehielt, obwohl sie inzwischen seit fast vier Monaten aus Washington zurück waren. Und dann auch noch dieses deutlich ausgesprochene und betont nonchalante »Department of Justice« . Du liebe Güte …
Ihr Redaktionshandy klingelte irgendwo weit unten in ihrer Tasche. Sie kramte in aller Ruhe danach, weil der Verkehr ohnehin stand.
»Was zur Hölle hast du mir da für Bilder geschickt?«
Patrik Nilsson, der Nachrichtenchef des Blattes, hatte offenbar die Fotos vom Waldweg in die Finger gekriegt.
»Eine Tote. Die Frau hat ihren Sohn heute Morgen bei der Kita abgeliefert und ist auf dem Heimweg gestorben. Todesursache unklar. Ich wette einen Zehner, dass sie mitten in einer Scheidung steckt und der Vater des Jungen sie totgeschlagen hat.«
»Sieht aus wie eine Baumwurzel. Wie war es bei Ingvar?«
»Ingvar?«
»Ingvar Kamprad aus Elmtaryd Agunnaryd?«
Sie musste sich anstrengen, um sich an den Auftrag, für den sie ursprünglich losgeschickt worden war, zu erinnern.
»Das gibt nichts her.«
»Bist du sicher?«
Patrik hatte sich in den Kopf gesetzt, dass das Dach der IKEA -Halle in Kungens Kurva, der weltweit größten Filiale, wegen der Schneelast akut einsturzgefährdet sei. Zweifellos wäre das eine gute Story gewesen, wenn es denn gestimmt hätte. Das Personal an der Information war vollkommen überrascht, als Annika fragte, ob es Probleme mit einem einsturzgefährdeten Dach gebe. Sie tat so, als habe sie einen Hinweis aus der Bevölkerung bekommen, was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach. Der »Hinweis« war vermutlich während der Elf-Uhr-Konferenz am Vormittag in Patrik Nilssons Gehirn entstanden. Folglich hatte man sie losgeschickt, um herauszufinden, ob sich die Wirklichkeit irgendwie den Bedürfnissen des Abendblatts anpassen ließ, was, wie sich in diesem Fall herausstellte, einigermaßen schwierig zu bewerkstelligen war. Das Personal an der Information hatte irgendeinen technischen Leiter in einem Zentralbüro angerufen, der telefonisch versicherte, dass das Dach eine Schneelast von zweiundzwanzig Metern aushielt. Mindestens.
»Kein marodes Dach«, sagte sie lakonisch.
»Verdammter Mist, haben sie dich raufgelassen, damit du nachsehen konntest?«
»Yes« , log sie.
»Nicht mal Risse?«
»Null.«
Plötzlich kamen die Autos um sie herum wieder in Bewegung. Sie schaltete in den ersten Gang, geriet im Schneematsch ein wenig ins Rutschen und konnte dann auf fast 20 Stundenkilometer beschleunigen.
»Was machen wir mit der toten Mama?«, fragte sie.
»Mit der umgestürzten Wurzel?«
»Die Polizei weiß so gut wie sicher, wer sie ist. Ein Nachbar hat angerufen und sie im Laufe des Tages vermisst gemeldet. Aber bestimmt geben sie den Namen heute Abend nicht mehr frei.«
»Ist das die, die hinter einer Kita gelegen hat?«, fragte Patrik mit neuem Interesse in der Stimme. »Ist sie von einem der Kinder gefunden worden?«
»Nein«, sagte Annika und schaltete in den zweiten Gang. »Einem Langläufer.«
»Bist du sicher? Vielleicht ist eines der Kinder mit einem Schlitten auf sie drauf gefahren? Vielleicht hat ja ein Arm rausgeguckt und sich in der Kufe verfangen?«
»Der Stau löst sich auf«, sagte Annika. »Ich bin in einer Viertelstunde da.«
Sie stellte den Wagen im Parkhaus der Zeitung ab und nahm die Treppe hinunter in die Katakomben. Früher hatte es vier Aufgänge zur Redaktion gegeben, aber Bombendrohungen und Besserwisser hatten dafür gesorgt, dass momentan alle bis auf einen geschlossen waren. Die einzige Möglichkeit, die Hausmeisterei zu umgehen, war der Weg vom Parkhaus hinunter in den Keller und dann mit dem Fahrstuhl hinter der Rezeption
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