Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Blickfeld endete genau auf Höhe einer kleinen Spinne. Eine Minute starrten wir einander im Halbdunkel an, die Spinne und ich, ehe sie sich eilig auf mein Gesicht zubewegte und über einen kleineren Stein lief. Ich schloss die Augen und spürte ihre winzigen Füße über meine Lider hasten. Nachdem sie mein Ohr passiert hatte und in meinen Haaren verschwunden war, spürte ich sie nicht mehr. Ich ging nicht davon aus, dass sie giftig war, wollte aber nichts riskieren und schüttelte heftig den Kopf, damit sie herunterfiel.
Danach lag ich ganz still und horchte nach draußen. Ich hörte die Bewacher herumgehen, der eine sagte etwas zu dem anderen. Der Gestank hier drinnen war wirklich kaum auszuhalten.
»He«, flüsterte ich in Richtung des Dänen und setzte mich mühsam auf. »Was stinkt denn hier so?«
Von meiner neuen Position aus konnte ich den Dänen (Per hieß er, glaube ich) besser sehen. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke, seine Augen wirkten grau verschleiert, sein Gesicht war grau, der ganze Körper grau. Seine grauen Lippen waren weit geöffnet, als riefe er etwas zum Himmel hinauf, in seinem Mund krabbelte es, etwas bewegte sich in seinem Mund, und er schrie, ein Schrei stieg zum Dach hinauf und durch die Ritzen an der Tür und quer über die ganze Manyatta und weiter bis zum Horizont, aber nicht der Däne schrie, nicht Per schrie, sondern ich, und ich schrie und schrie, bis die Blechtür aufging und das Licht auf seinen Körper fiel wie eine Explosion und ich die Ameisen sah.
*
Annika betrachtete ihr Gesicht im Badezimmerspiegel und zeichnete mit den Fingern die dunklen Ringe unter den Augen nach. Die Einsamkeit saß dort, die Trennung von den Kindern, die Unfähigkeit zu arbeiten, die Untreue ihres Mannes …
Sie lauschte auf die Geräusche des Hauses, Nachbar Lindström drehte auf der anderen Seite der Wand den Wasserhahn auf, der Ventilator im Bad sauste, der Fahrstuhl im Treppenhaus rumpelte.
Selbst die Geräusche gehörten ihr nicht mehr, ihr Zuhause war okkupiert von Entführern und Regierungsbeamten.
Obwohl, ein richtiges Zuhause war es ja gar nicht, wenigstens nach Thomas’ Ansicht. Er fand die Wohnung zu klein und zu vollgestellt, aber das war sie erst, nachdem er eingezogen war und andere Möbel um sich herum haben wollte als die von IKEA . Am allermeisten verabscheute er das Badezimmer, den PVC -Boden, den Duschvorhang, das billige kleine Waschbecken. In Vaxholm hatten er und Eleonor ein Spa mit Sauna und Jacuzzi gehabt.
Annika strich mit der Hand über den Spiegel, als wollte sie sich entschuldigen.
Die Wohnung traf keine Schuld, und sie auch nicht.
Es war Thomas’ Entscheidung gewesen, in dieses Flugzeug zu steigen, sich in diesen Toyota zu setzen. Seine Entscheidung, und jetzt musste sie dafür bezahlen.
Sie duschte, eiskalt.
Zog sich an, machte die Betten, frühstückte.
Als Halenius an der Tür klingelte, hatte sie gerade klar Schiff in der Küche gemacht. Sein Haar war feucht, als wäre er ebenfalls gerade aus der Dusche gekommen, er trug dieselben Jeans wie gestern, aber ein hellblaues, frisch gebügeltes Hemd.
Würde gern mal wissen, ob er seine Hemden selbst bügelt oder ob seine Freundin das macht, schoss es ihr durch den Kopf, als er seine Jacke aufhängte.
»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich werde Ihre Vorgehensweise oder Ihr Urteil nicht mehr in Frage stellen. Ohne Sie wäre ich vollkommen verloren. Danke, dass Sie das für mich tun. Ich weiß das sehr zu schätzen, wirklich. Falls Sie die Hansemänner dazuholen wollen, meinetwegen gern. Mir ist es recht.«
Sie holte Luft und schwieg. Ihr Vortrag hörte sich bei weitem nicht so gut an wie das, was sie in Gedanken geübt hatte. Da hatte es viel demütiger und melodischer und verletzlicher geklungen. Aber als sie die Sätze aussprach, klang ihre Stimme gepresst und ein klein wenig schrill, die Worte rieben sich aneinander und wollten zu schnell und in der falschen Reihenfolge heraus.
Sie schlug die Augen nieder und biss sich auf die Lippe, aber sie bekam noch mit, dass er lächelte.
»Schon gut«, sagte er. »Man kann mich mit Kaffee und Kuchen bestechen.«
Erstaunt darüber, wie erleichtert sie war, erwiderte sie sein Lächeln.
»Ich habe mich wie eine blöde Zicke gefühlt, nachdem Sie gegangen waren«, sagte sie, lief in die Küche und füllte den Wasserkocher. »Schwarz, richtig?«
Er stellte sich in die Küchentür.
»Die Angehörigen des Rumänen und des Spaniers haben einen proof of
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