Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Worten teilhaben, konnte sich die Argumente anhören, ohne sich auf die Person einlassen zu müssen. Doch nicht jetzt, nicht heute Abend.
Im Augenblick war es still in der Entführungszentrale, aber das Telefon hatte keinen Piep von sich gegeben, also war das Gespräch noch nicht beendet. Was machte er da drinnen? Wartete er auf irgendwas? Worauf? War etwas schiefgegangen?
»Yes« , hörte sie ihn im selben Moment sagen und atmete erleichtert aus.
Sie musste noch mal mit Anders Schyman sprechen und in Erfahrung bringen, was sein Angebot eigentlich umfasste. Wie viel Geld war die Zeitung bereit zu investieren? Wie viel würde sie dafür über ihre und Thomas’ Beziehung preisgeben müssen? Den Sex, das Kochen, die Fernsehabende? Musste sie die Kinder einbringen?
Sie ging in die Küche, von Halenius’ gedämpfter Stimme eingehüllt wie von einem Nebel. Sie hatten gebackenen Ziegenkäse auf Rucolasalat mit Pinienkernen, Cherrytomaten, Honig und Himbeer-Balsamico als Vorspeise gegessen (ein alter Klassiker) und als Hauptgericht Schweineschnitzel mit Kartoffelspalten und Pfifferlingsauce (sie hatte eigenhändig gesammelte und bereits blanchierte Pfifferlinge im Gefrierschrank). Zum Nachtisch verdrückte Halenius das letzte Stück Klitschkuchen.
»Ich rolle nachher hier raus«, sagte er, als er den schokoladeverschmierten Teller von sich schob.
Annika stellte das Geschirr in die Spülmaschine, ohne zu antworten.
Zwischen sechs und sechzig Tagen, so lange dauerte eine Entführung aus finanziellen Beweggründen normalerweise. Eine politische Geiselnahme konnte sich noch wesentlich länger hinziehen. Terry Anderson, Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur AP in Beirut, war fast sieben Jahre von der Hisbollah festgehalten worden. Ingrid Betancourt saß ebenso lange bei der FARC -Guerilla in Kolumbien fest.
Hinter der angrenzenden Wand hörte sie Halenius immer noch leise reden. Was gab es denn da bloß alles zu besprechen? Sie wischte die Spüle noch einmal ab. Die Edelstahloberfläche glänzte. Sie öffnete den Kühlschrank, nahm sich eine Tomate heraus und biss in die kleine Kugel, die mit einem leisen Plopp in ihrem Mund zerplatzte.
Wieso redete er so lange?
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa.
23.58 Uhr. Schon fast eine Viertelstunde.
Der Fernseher lief ohne Ton, sie schaltete ihn aus.
Alle Nachrichtensendungen des Abends hatten über den in Kenia entführten Schweden Thomas Samuelsson berichtet. Die übrigen Geiseln wurden kaum erwähnt. Dass man den Franzosen tot aufgefunden hatte, war noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, aber das war nur eine Frage der Zeit. Im Laufe der Nacht, spätestens aber morgen früh würde die Meldung wie eine Bombe bei den Medien einschlagen. Dann würden alle Kollegen, denen sie heute Abend abgesagt hatte, wieder bei ihr Sturm laufen und fragen, ob sie sich nicht dazu äußern wolle, dass die Hinrichtung der Geiseln begonnen hatte.
Sie schloss die Augen.
Was sollte sie machen, falls Thomas starb? Falls sie ihn umbrachten? Wie würde sie reagieren? Würde sie zusammenbrechen? Durchdrehen? Erleichtert sein? Sollte sie sich hinstellen und öffentlich trauern? Vielleicht würde Letterman anrufen – sollte sie dann hinfliegen? Oder Oprah? Hatte die überhaupt noch eine Show, oder war sie eingestellt worden? Wen sollte sie zur Beerdigung einladen? Sollte es eine kleine Trauerfeier im engsten Familienkreis geben oder ein großes Event mit Fernsehen und allen Zeitungen und seiner alten Studentenorganisation aus Uppsala und Sophia Grenborg und der stinkvornehmen Bankdirektorin Eleonor, seiner ersten Frau?
Sie schlug die Augen auf.
Er war nicht tot.
Er lebte und atmete, sie konnte seinen Atem ganz nah neben sich spüren.
Oder bildete sie sich das ein? Wie alte Leute, die ihren Partner verlieren und plötzlich Gespenster sehen, sich das Bild ihres verstorbenen Seelenverwandten vor Augen rufen und durch Worte und Gedanken mit ihm kommunizieren?
00.07 Uhr.
Wie unglaublich lange das dauerte. Dreiundzwanzig Minuten jetzt schon. Worüber redeten die nur?
Sie versank in sich, versuchte das Gefühl von jenem Morgen im südspanischen Puerto Banús heraufzubeschwören, als sie wieder mit Thomas zusammengekommen war, die Erkenntnis, dass sie trotz der Scheidung mit ihm zusammenleben konnte, wie hatte sich die angefühlt? Konnte sie den Tod besiegen?
Das Telefon piepste. 00.11 Uhr. Siebenundzwanzig Minuten hatte das Gespräch gedauert.
Die Stille
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