Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
das Gefühl, als hätte ich etwas gefunden, was mir bisher gefehlt hat. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber zum ersten Mal, seit ich in einer Welt erwacht bin, die mich meiner Menschlichkeit beraubt hat, komme ich mir fast wie ein Mensch vor. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, wieder etwas wert zu sein.
Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass meine Existenz eine Bedeutung hat.
KAPITEL 10
Als ich am Sonntagmorgen zu mir komme, hat sich das tiefgreifende Gefühl von Unvermögen und eintöniger Schicksalsergebenheit, das mein Dasein die letzten dreieinhalb Monate bestimmt hat, in eine innere Unruhe verwandelt. In fiebrige Erregung. Ich fühle mich wie ein Jugendlicher, der nicht aufhören kann, herumzuzappeln.
»Was ist los, hast du Hummeln im Hintern?«, hat mein Vater immer zu mir gesagt.
Ich weiß nichts von Hummeln im Hintern, aber ich habe das Gefühl, als würde unter meiner Haut irgendetwas herumkrabbeln.
Außerdem haben meine Eltern Freunde eingeladen, um sich bei Mimosas und Pupus das Spiel der Fortyniners anzuschauen. Ich kann hören, wie sie und ihre Gäste oben lachen und jubeln und wie sie den Fernseher anbrüllen, während mich die Wände des Weinkellers in Langeweile hüllen.
Ich komme mir wie ein Häftling vor.
Ich versuche meine Angstgefühle zu verdrängen, indem ich mir Wiederholungen von Die Nanny und Golden Girls anschaue. Und mir eine Flasche 1985 Château Cheval Blanc gönne. Und das zusätzliche Einmachglas Wild, das Ray mir gegeben hat. Doch das führt lediglich zu der Erkenntnis, dass der Lifetime Channel, teurer französischer Wein und
konserviertes Wildfleisch sich nicht besonders gut dazu eignen, um innere Unruhe zu bekämpfen.
Ich muss hier raus.
Um zu verhindern, dass ich plötzlich oben auftauche und ihnen die erste Party seit meiner Einquartierung im Weinkeller versaue, haben meine Eltern die Tür am oberen Treppenabsatz abgeschlossen. Glücklicherweise hat man über eine Sturmtür auf der Rückseite des Hauses, durch die ich ein und aus gehe, ebenfalls Zugang zum Weinkeller. Das ist praktischer, als die Haustür zu benutzen, und außerdem sind es weniger Treppenstufen; aber vor allem erspart es meinen Eltern die Peinlichkeit, ihren Gästen zu erklären, was mit mir los ist.
Eben hat es noch geregnet, und der düstere Himmel hängt voller dicker Wolken; also werfe ich eine Regenjacke mit Kapuze über, schnappe mir meine Schreibtafel, betrete durch den Hinterausgang den Garten und schließe die Sturmtür hinter mir. Durch eines der Fenster auf der Rückseite kann ich meinen Vater erkennen, wie er in seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher hockt - in der einen Hand ein Bier, in der anderen ein paar Chips, amüsiert er sich prächtig mit den Putmans und Dolucas, während meine Mutter mit einem Tablett Mimosas lächelnd das Zimmer betritt.
Alle haben ihren Spaß.
Ich denke daran, heulend oder schreiend durch die Vordertür ins Haus zu torkeln, nur um den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu genießen, doch es lohnt sich nicht, dafür einen Familienkrach zu riskieren, also wanke ich vom Fenster zur Seite des Hauses, wo zwischen unserem Haus und dem Nachbargebäude ein schmaler Pfad verläuft, der zu einem kleinen Bach führt. Er fließt durch eine Schlucht
hinter unserem Haus, auf deren anderer Seite sich mehrere Geschäftsgebäude befinden. Dort ist am Wochenende normalerweise nichts los. Dort werde ich von niemandem schikaniert. Dort hört mich niemand schreien, falls jemand meint, er müsste sich auf meine Kosten amüsieren.
Prinzipiell sollte man als Zombie besser nicht ohne Begleitung unterwegs sein. Helen sagt immer, in der Gruppe ist man stark, aber ich möchte alleine sein. Ich möchte einfach spazieren gehen. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Spazieren zu gehen, ohne dass man sich dafür rechtfertigen muss. Ohne dass man ständig über die Schulter schauen muss.
Das Tolle an einer Schreibtafel, die man zur Verständigung um den Hals trägt, ist, dass man sie gleichzeitig als Protestschild verwenden kann.
Ich nehme die Tafel ab und lege sie auf den Baumstumpf am Rande der Schlucht. Ich denke einen Moment nach, spiele verschiedene Möglichkeiten durch und entscheide mich dann für eine griffige und schlichte Formulierung. Mit meinem schwarzen abwischbaren Filzstift schreibe ich:
Ich habe
das Recht
spazieren zu gehen
Dann hänge ich mir die Tafel wieder um den Hals und setze meinen Weg fort.
Die Schlucht ist nass und matschig, was das Laufen nicht ganz
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