Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
einfach macht, doch ich schaffe es, sie zu durchqueren, ohne hinzufallen - eine echte Premiere. Während ich von der gegenüberliegenden Böschung die zehn Meter in
die Tiefe schaue, stelle ich mir vor, dass ein Bergsteiger, der den Mount Everest erklimmt, dasselbe verspürt, wenn er den Gipfel erreicht - ein Gefühl absoluter Zufriedenheit und Vollendung. Vielleicht sollte ich das Ganze aber auch etwas nüchterner betrachten.
Wie an einem Sonntag nicht anders zu erwarten, ist auf der Geschäftsstraße nichts los, abgesehen von einem Radio, aus dem irgendwo »Sweet Home Alabama« tönt. Auch wenn man in Santa Cruz County nur selten auf die Flagge der Konföderierten und auf Gewehrregale trifft, halte ich es für besser, jedem aus dem Weg zu gehen, der Südstaaten-Rock hört, also schlurfe ich über die Straße, vorbei an Elaine’s Dance Studio, und hinter einem Laden für Tierbedarf eine Gasse hinunter, bis ich vor einem leeren Gebäude stehen bleibe, in dem früher mal ein Beerdigungsinstitut war.
Von einer morbiden Faszination zu der Leichenhalle hingezogen, blicke ich durch das Schaufenster, obwohl sie seit Jahren leersteht. Ich bin nie drin gewesen, trotzdem fühle ich mich ihr verbunden, als würden wir beide im selben Rhythmus schwingen.
Ich denke oft über den Tod nach.
Nicht Gevatter Tod, der in seinem altmodischen Grufti-Gewand herumschleicht und diese lächerliche Sense mit sich herumschleppt. Was für ein Angeber! Nein. Ich meine, wie diese Erfahrung Körper und Geist beeinflusst und zerstört.
Wenn das Herz aufhört zu schlagen, wird dem Gewebe und den Zellen Sauerstoff entzogen. Der Kohlendioxidgehalt steigt, die Abfallprodukte können nicht mehr abtransportiert werden und vergiften die Zellen, worauf diese sich von innen heraus auflösen, bis sie platzen und Flüssigkeit
freisetzen, die sich im ganzen Körper verteilt. Die Zellen in Gehirn und Leber verabschieden sich in der Regel als Erstes, während Hautzellen, die man vierundzwanzig Stunden nach Eintritt des Todes der Leiche entnommen hat, auf einem entsprechenden Nährboden immer noch wachsen.
Ich habe viel Zeit.
Vielleicht kann ich auch deswegen nicht aufhören, über den Tod nachzudenken, weil es auf meiner Aufgabenliste steht:
In Reinigungsmittel baden.
Grosse Pointe Blank a uf TNT anschauen.
Über den Tod nachdenken.
An der Luft verwest eine menschliche Leiche doppelt so schnell wie im Wasser und viermal so schnell wie unter der Erde. In der Regel bleiben Leichen länger intakt, wenn sie tiefer begraben werden, vorausgesetzt, die Erde ist nicht feucht, während eine Leiche, die an der Luft verwest, rasch von Insekten und anderen Tieren aufgefressen wird - wie Larven von Aasfliegen, Käfern, Ameisen und Wespen. In tropischen Regionen kann sich eine Leiche in weniger als vierundzwanzig Stunden in ein hektisches Gewusel aus Maden verwandeln.
Derlei tröstliche Gedanken helfen mir zu entspannen, wenn ich Probleme habe einzuschlafen.
Womöglich bin ich einfach deshalb so vom Tod besessen, weil ich darum betrogen wurde. Meine Frau hat vom Reisebüro für den Trip ins Jenseits ein All-Inclusive-Ticket bekommen, während man mich am Gate mit dem Gepäck hat stehen lassen. Nur dass ich eigentlich gar kein Gepäck
habe. Nichts aus meinem Leben hat mich in mein untotes Dasein begleitet. Weder meine Koffer noch irgendwelche Andenken. Oder mein persönliches Hab und Gut. Nichts außer dem Anzug, den ich anhatte, als ich aus dem Kühlhaus getorkelt bin. Unser ganzer sonstiger Besitz, all die Gegenstände, die mich im Leben mit Annie und Rachel verbunden haben, wurden einkassiert, verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Manchmal kommt es mir so vor, als hätten Annie und Rachel außer in meinem Kopf nie existiert.
Helen ermutigt uns stets, uns nicht an die Vergangenheit zu klammern, so dass wir unser altes Leben und den ganzen damit verbundenen Ballast loslassen können. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Gruppe mir geholfen hat, mich nicht länger zu bemitleiden, ändert das nichts an der Tatsache, dass ich meine Frau und meine Tochter vermisse. Obwohl mein Herz aufgehört hat zu schlagen, tut es immer noch weh.
Bevor ich mich abwende, um weiterzugehen, bemerke ich meine Reflexion in der Glasscheibe. Normalerweise halte ich mich von Spiegeln und allen Gegenständen fern, in denen man sich einigermaßen erkennen kann. Es ist schon ohne optischen Verweis auf mein neues Aussehen schwer genug, nicht an die Vergangenheit zu denken. Vielleicht ist es
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