Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
schluchzender Trauergäste. Der geschlossene Sarg, umgeben von Fotos und mit Blumen behängt. Dann plötzlich rutscht eines des Gestecke herunter, und der Deckel öffnet sich langsam. Man hört die Leute keuchen und schreien, während Stühle umkippen und entsetzte Gesichter an der Kamera vorbeiwischen und der Pfarrer rückwärts vom Podium taumelt und brüllt: »Gütiger Gott!«
Jerry setzt sich im Sarg auf, zieht die Plastikkappen und Wattebäuschchen unter den Lidern hervor und schaut sich blinzelnd im Raum um.
Die Kamera geht näher ran - eine Großaufnahme von Jerry mit seinen aufgeschürften roten Wangen, den Kopf in Mull gewickelt, während sein Vater außerhalb des Bildausschnitts aufheult. Jerry blinzelt und schüttelt den Kopf, lässt seinen Blick erneut durch den Raum wandern und betrachtet den Sarg, dann fährt er herum, starrt direkt in den Fotoapparat und sagt: »Alter, ist das meine Kamera?«
Da Jerry in einem geschlossenen Sarg beerdigt wurde, hatte der Bestatter darauf verzichtet, seinen Mund zuzunähen. Ich wünschte, ich hätte auch so viel Glück gehabt. Mein Bestatter hat wirklich auf jede Kleinigkeit geachtet. Absolut schulbuchmäßig. Er hat meine Körperhöhlen mit Watte voller Gel ausgestopft und mir unter meiner Kleidung einen hautengen Body aus Plastik angezogen, um die austretende Körperflüssigkeit aufzufangen. Es war höllisch schwer, aus dem verdammten Ding wieder rauszukommen.
»Okay«, sagt Helen, als wir uns alle vor dem Hauptmausoleum versammelt haben. »Ich möchte, dass jeder von euch die nächsten zehn Minuten für sich alleine verbringt. Macht euren Kopf frei von allen negativen Gedanken und von dem Bild, das ihr von euch selbst habt, und nehmt Verbindung mit dem Universum auf. Lasst euch treiben. Ohne dabei zu verkrampfen. Gebt euch ganz dem Moment hin und seid einfach.«
Manchmal frage ich mich, wie viel LSD Helens Mutter während der Schwangerschaft geschluckt hat.
Jeder schlurft in eine andere Richtung, während Helen am Mausoleum bleibt und uns wie die Aufsicht in der großen
Pause im Auge behält. Kurz darauf sind alle in der Dunkelheit verschwunden, allerdings kann ich sehen, wie die glühende Asche von Naomis Zigarette rechts von mir davonschwebt.
Ich versuche mich an Helens Anweisung zu halten, konzentriere mich auf überhaupt nichts und versuche, den Kopf freizukriegen. Vergeblich. Ich muss an Rita und Rachel denken. Rachel und Rita. Mit der einen habe ich zehn Jahre meines Lebens verbracht, mit der anderen zehn Minuten im Transporter der Animal Control. Die eine duftete nach Lavendelseife und »White Linen«, die andere stinkt ein wenig nach verwesendem Fleisch. Die eine ist tot und kalt, die andere untot und heiß.
Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich mal vor so einem Beziehungsproblem stehen würde.
Während ein Teil von mir sich immer noch der Beziehung verbunden fühlt, die ich mit Rachel hatte, und dem Schmerz, der mich hin und wieder überwältigt, spüre ich doch auch, dass uns inzwischen mehr trennt als bloß der Tod. Es ist wie eine völlig andere Kultur. Wie eine andere Gesellschaftsschicht. Wie der Unterschied zwischen den Lebenden und den Untoten. Denn selbst wenn Rachel überlebt hätte, wären wir nicht zusammengeblieben. Von der Erziehung unserer Tochter mal ganz abgesehen, kommen Atmer nur selten wieder mit ihrem untoten Expartner zusammen. So ist es jedenfalls einfacher für mich. So werden keine Gefühle verletzt. So muss keine Entscheidung getroffen werden.
Mir ist allerdings klar, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Denn ich muss durchaus eine Entscheidung treffen. Meine Frau ist tot und liegt unter einer zwei Meter dicken Erdschicht begraben, während Rita untot ist, aber hier bei
mir. Sie ist vom selben Schlag. Und als Untoter sind meine Chancen auf ein Liebesabenteuer äußerst begrenzt. Bisher bin ich noch auf keiner Single-Party für Zombies gewesen, aber ich habe gehört, dass sie ein wahres Festessen für Maden sein sollen.
An manchen Abenden, wenn ich nicht einschlafen kann, höre ich wieder die Stimme meiner Mutter, zittrig und schrill, wie sie am Tag meiner Rückkehr in der Türöffnung des Weinkellers stand, ein Handtuch vor Mund und Nase.
»Was … was willst du haben, Andy?«
Ich will mein Leben zurück, das will ich. Ich will all das zurückhaben, was ich mal hatte. Ich will all das tun, was ich nicht mehr darf. Aber am meisten wünsche ich mir jemanden, mit dem ich das hier teilen kann. Jemand, der mich
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