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Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen

Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen

Titel: Ans Glueck koennte ich mich gewoehnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Schilling-Frey
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Gefühle, weil sie uns daran hindern zu funktionieren, zeigen wir wenig Selbstmitgefühl und verleugnen damit uns selbst.
    Die Forderung, sich nicht selbst zu täuschen, ist eine moralische Maxime aus der Philosophie: das philosophische Projekt der Selbsterkenntnis. Der griechische Philosoph Sokrates hat uns in seinen Dialogen gezeigt, dass wir uns erst gegen die Widerstände der Selbsttäuschung durchsetzen müssen, um uns selbst erkennen zu können. Bei Sokrates bemühten sich seine Schüler nicht um Erkenntnis aus der Unkenntnis heraus, sondern viel schlimmer: Sie waren der Meinung, alles zu wissen. Sokrates führte mit den Menschen Dialoge, damit diese erkennen konnten, dass sie nichts wussten. Denn erst dieses Nichtwissen führt uns zur wahren Erkenntnis, zur eigenen Seele, zu uns selbst. Es ist die Sorge um die eigene Seele, die Sokrates umtreibt. Diese Seele soll tugendhaft und gut werden, indem der Mensch sich nichts mehr vormacht, sondern alle Selbsttäuschungen entlarvt und sich damit selbst erkennt.
    Selbsterkenntnis ist ein grundlegendes Element der philosophischen Existenz. Der Mensch muss sich in jedem Moment selbst anerkennen, auch in Momenten, in denen wir uns selbst als böse bewerten müssen. Oftmals ist es nur ein Gefühl, eine Regung, die uns sagt, etwas Böses getan zu haben. Bei der Selbsterkenntnis geht es darum, dazu zu stehen und es auch auszusprechen.
    Jede Art von moderner Gesprächstherapie basiert auf diesem Prinzip. Schon Freud wies darauf hin, dass wir unangenehme Dinge, die uns im Leben passieren oder die wir selbst verschulden, gerne verdrängen. Diese Verdrängung ist oft kein bewusster Vorgang, sondern eine unbewusste Schutzreaktion unseres Körpers. Eine Verdrängung bedeutet jedoch nicht, dass die Ereignisse vergessen, sondern dass sie nicht mehr erinnert werden. Wir wissen heute sehr gut, dass wir mit jeglicher Art von Verdrängung unsere psychische und auch physische Gesundheit aufs Spiel setzen. Dadurch, dass wir negative Dinge, die zu uns und unserem Leben gehören, nicht einmal mehr erinnern, nehmen wir uns die Chance, damit umzugehen.
    Freud war noch der Meinung, dass wir dann schon geheilt sind, wenn wir Verdrängtes einfach aussprechen. Heute wissen wir, dass dies meist nicht ausreicht. Trotzdem ist das Erinnern und Aussprechen der erste und wichtigste Schritt, um Vergangenes aufarbeiten zu können. In der Aufarbeitung lernen wir, damit umzugehen, diesen Teil unserer Vergangen heit als Teil von uns selbst zu akzeptieren und in unser Leben zu integrieren. In seinen Bekenntnissen schreibt Rousseau: »Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: ›Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! Ich habe das Gute und das Böse mit gleichem Freimut erzählt. Ich habe nichts Schlimmes verschwiegen, nicht Gutes hinzugefügt … Ich habe mich so gezeigt, wie ich war. Verächtlich und niedrig, wenn ich es war, gut, edelmütig, groß, wenn ich es war. Ich habe mein Innerstes entblößt, so wie Du selbst es gesehen hast.‹« 23
    Denken wir einmal kurz darüber nach, was es heißt »sein Innerstes zu entblößen«. Warum ist es eigentlich so schwierig, sich bloßzustellen? Meistens sind nicht wir selbst es, die uns bloßstellen, sondern die anderen. Wir fühlen uns dann bloßgestellt, wenn etwas über uns erzählt wird, von dem wir nicht möchten, dass es öffentlich wird. Es ist uns peinlich. Aber oft könnten wir ein Bloßstellen vermeiden, wenn wir von Anfang an offen mit unseren Schwierigkeiten umgehen würden. Eigentlich fängt »Bloßstellen« mit einem Geheimnis an: Wir machen aus etwas ein Geheimnis, weil wir diese Begebenheit als Schwachstelle in unserem doch so perfekten Leben werten.
    Auch ich hatte anfangs die größten Schwierigkeiten damit, vor mir und vor allem vor anderen zuzugeben, dass meine Tochter behindert ist. Eigene Kinder haben doch perfekt zu sein: schön, intelligent und natürlich auch sportlich und musikalisch. Was diesen »objektiven« Perfektionsgrad anging, musste ich Abstriche machen. Eine Behinderung, egal welcher Art, wird in unserer Gesellschaft meist als Schwäche bewertet. Und wenn wir ehrlich sind, tun wir das selbst auch: Wenn wir von einer Behinderung hören, spüren wir Gefühle wie Mitleid, aber auf keinen Fall Neid. Aber wenn wir etwas leugnen, das zu uns und unserem Leben gehört, kämpfen wir einen schrecklichen Kampf mit

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