Ansichten eines Clowns
mir ein, was Leo gewollt hatte: er wollte eben nur sägen, in diesem Augenblick, wo er Lust darauf hatte, mit mir sägen. Ich verstand ihn plötzlich, nach zehn Jahren, und erlebte seine Freude, seine Spannung, seine Erregung, alles, was ihn bewegt hatte, so intensiv, daß ich mitten im Unterricht anfing, Sägebewegungen zu machen. Ich sah Leos freudig erhitztes Jungengesicht mir gegenüber, schob die verrostete Säge hin, er schob sie her - bis Pater Wunibald mich plötzlich an den Haaren zupfte und »zur Besinnung brachte«. Seitdem habe ich wirklich mit Leo das Holz durchgesägt - er kann das nicht begreifen. Er ist ein Realist. Er versteht heute nicht mehr, daß man etwas scheinbar Dummes sofort tun muß. Sogar Mutter hat manchmal
Augenblickssehnsüchte: am Kaminfeuer Karten zuspielen, in der Küche eigenhändig Apfelblütentee aufzugießen. Sicher hat sie plötzlich Sehnsucht, an dem schönen blankpolierten Mahagonitisch zu sitzen, Karten zu spielen, glückliche Familie zu sein.
Aber immer, wenn sie Lust dazu hatte, hatte von uns keiner Lust dazu; es gab Szenen, Unverstandene-Mutter-Getue, dann bestand sie auf unserer Gehorsamspflicht, Viertes Gebot, merkte dann aber, daß es ein merkwürdiges Vergnügen sein würde, mit
Kindern, die nur aus Gehorsamspflicht mitmachen, Karten zu spielen - und ging weinend auf ihr Zimmer. Manchmal versuchte sie es auch mit Bestechung,
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erbot sich, etwas »besonders Gutes« zu trinken oder zu essen herauszurücken - und es wurde wieder einer von den tränenreichen Abenden, von denen Mutter uns so viele beschert hat. Sie wußte nicht, daß wir uns alle deshalb so strikte weigerten, weil immer noch die Herzsieben im Spiel war und uns jedes Kartenspiel an Henriette erinnerte, aber keiner sagte es ihr, und später, wenn ich an ihre vergeblichen Versuche dachte, am Kaminfeuer glückliche Familie zu spielen, spielte ich in Gedanken allein mit ihr Karten, obwohl Kartenspiele, die man zu zweien spielen kann, langweilig sind. Ich spielte tatsächlich mit ihr, »Sechsundsechzig« und »Krieg«, ich trank Apfelblütentee, sogar mit Honig drin, Mutter - mit neckisch erhobenem Zeigefinger drohend - gab mir sogar eine Zigarette, und irgendwo im Hintergrund spielte Leo seine Etüden,
während wir alle, auch die Mädchen, wußten, daß Vater bei »diesem Weib« war.
Irgendwie muß Marie von diesen »Lügen« erfahren haben, denn sie sah mich immer zweifelnd an, wenn ich ihr etwas erzählte, und diesen Jungen in Osnabrück habe ich sogar wirklich gesehen. Manchmal ergeht es mir auch umgekehrt: daß mir das, was ich wirklich erlebt habe, als unwahr und nicht real erscheint. Wie die Tatsache, daß ich damals von Köln aus nach Bonn zu Maries Jugendgruppe fuhr, um mit den
Mädchen über die Jungfrau Maria zu sprechen. Das, was andere nonfiction nennen, kommt mir sehr fiktiv vor.
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Ich trat vom Fenster zurück, gab die Hoffnung auf meine Mark da unten im Dreck auf, ging in die Küche, mir noch ein Butterbrot zu machen. Sehr viel Eßbares war nicht mehr da: noch eine Büchse Bohnen, eine Büchse Pflaumen (ich mag Pflaumen nicht, aber das konnte Monika nicht wissen), ein halbes Brot, eine halbe Flasche Milch, etwa ein Viertel Kaffee, fünf Eier, drei Scheiben Speck und eine Tube Senf.
In der Dose auf dem Tisch im Wohnzimmer waren noch vier Zigaretten. Ich fühlte mich so elend, daß ich die Hoffnung aufgab, je wieder trainieren zu können. Mein Knie war so dick geschwollen, daß die Hose schon knapp zu werden begann, die
Kopfschmerzen so heftig, daß sie fast schon überirdisch wurden: ein dauernder
bohrender Schmerz, in meiner Seele war's schwärzer denn je, dann das »fleischliche Verlangen« -und Marie in Rom. Ich brauchte sie, ihre Haut, ihre Hände auf meiner Brust. Ich habe, wie Sommerwild es einmal ausdrückte, »ein waches und wahres
Verhältnis zur körperlichen Schönheit«, und habe gern hübsche Frauen um mich,
wie meine Nachbarin, Frau Grebsel, aber ich spüre kein »fleischliches Verlangen«
nach diesen Frauen, und die meisten Frauen sind darüber gekränkt, obwohl sie, wenn ich es spürte und zu stillen verlangte, sicher nach der Polizei rufen würden. Es ist eine komplizierte und grausame Geschichte, dieses fleischliche Verlangen, für nicht monogame Männer wahrscheinlich eine ständige Tortur, für monogame wie mich ein ständiger Zwang zur latenten Unhöflichkeit, die meisten Frauen sind irgendwie
gekränkt, wenn sie das, was ihnen als Eros bekannt ist, nicht
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