Ansichten eines Clowns
sie »politisch nicht spurten«, die ganze ekelhafte Schnüffelei nicht mitmachten. Kalick wäre nie an die Front geschickt worden, der spurte, so wie er heute spurt. Er ist der geborene Spurer. Die Sache war ja ganz anders, als die Emigranten glauben. Sie können natürlich nur in Kategorien wie schuldig, nicht schuldig -Nazis, Nichtnazis denken.
Der Kreisleiter Kierenhahn kam manchmal zu Maries Vater in den Laden, nahm sich einfach ein Paket Zigaretten aus der Schublade, ohne Marken oder Geld hinzulegen, steckte sich eine Zigarette an, setzte sich vor Maries Vater auf die Theke und sagte:
»Na, Martin, wie wär's, wenn wir dich in ein nettes, kleines, nicht ganz so grausames KZ-chen steckten?« Dann sagte Maries Vater: »Schwein bleibt Schwein, und du bist immer eins gewesen.« Die beiden kannten sich schon seit ihrem sechsten Lebensjahr.
Kierenhahn wurde wütend und sagte: »Martin, treib's nicht zu weit, übertreib's nicht.« Maries Vater sagte: »Ich treib's noch weiter: mach, daß du wegkommst.«
Kierenhahn sagte: »Ich werde dafür sorgen, daß du nicht in ein nettes, sondern in ein übles KZ kommst.« So ging das hin und her, und Maries Vater wäre abgeholt
worden, wenn nicht der Gauleiter seine »schützende Hand« über ihn gehalten hätte, aus einem Grund, den wir nie herausbekamen. Er hielt natürlich nicht seine schützende Hand über alle, nicht über den Lederhändler Marx und den Kommunisten Krupe. Sie wurden ermordet. Und dem Gauleiter geht es ganz gut heute, er hat sein Baugeschäft.
Als Marie ihn eines Tages traf, sagte er, er »könne nicht klagen«. Maries Vater sagte mir immer: »Wie schrecklich diese Nazigeschichte war, kannst du nur ermessen,
wenn du dir vorstellst, daß ich so einem Schwein wie dem Gauleiter tatsächlich mein Leben verdanke, und daß ich auch noch schriftlich bescheinigen muß, daß ich es ihm verdanke.«
Ich hatte Kalicks Nummer inzwischen gefunden, zögerte noch, sie zu wählen. Es
fiel mir ein, daß morgen Mutters jour
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fixe war. Ich könnte hingehen, mir wenigstens vom Geld meiner Eltern die Taschen voll Zigaretten und Salzmandeln stecken, eine Tüte für Oliven mitnehmen, eine
zweite für Käsegebäck, dann mit dem Hut rundgehen und für »ein notleidendes
Mitglied der Familie« sammeln. Ich hatte das als Fünfzehnjähriger einmal gemacht,
»für einen besonderen Zweck« gesammelt und fast hundert Mark zusammenbe-
kommen. Ich hatte nicht einmal Gewissensbisse, als ich das Geld für mich
verwendete, und wenn ich morgen »für ein notleidendes Mitglied der Familie«
sammelte, würde ich nicht einmal lügen: ich war ein notleidendes Mitglied der
Familie - und später könnte ich noch in die Küche gehen, an Annas Busen weinen und mir ein paar Wurstreste einstecken. Alle bei meiner Mutter versammelten Idioten würden mein Auftreten für einen herrlichen Witz erklären, meine Mutter selbst
würde es mit saurem Lächeln als Witz durchgehen lassen müssen - und keiner würde wissen, daß es todernst war. Diese Leute verstehen nichts. Sie wissen zwar alle, daß ein Clown melancholisch sein muß, um ein guter Clown zu sein, aber daß für ihn die Melancholie eine todernste Sache ist, darauf kommen sie nicht. Bei Mutters jour fixe würde ich sie alle treffen: Sommerwild und Kalick, Liberale und Sozialdemokraten, sechs verschiedene Sorten von Präsidenten, sogar Anti-Atom-Leute (meine Mutter war sogar einmal drei Tage Anti-Atomkämpferin gewesen, war aber dann, als ihr ein Präsident von irgendwas klar machte, daß eine konsequente Anti-Atom-Politik einen radikalen Aktiensturz herbeiführen würde, sofort - buchstäblich sofort, zum Telefon gelaufen, hatte das Komitee angerufen und sich »distanziert.«) Ich würde - zum Schluß erst, wenn ich mit meinem Hut schon rundgegangen war, Kalick öffentlich ohrfeigen, Sommerwild als pfäffischen Heuchler beschimpfen und den anwesenden
Vertreter des Dachverbandes katholischer Laien der Verleitung zu Unzucht und
Ehebruch anklagen.
Ich nahm den Finger von der Wählscheibe und rief Kalick nicht an. Ich hatte ihn nur fragen wollen, ob er seine Vergan-192
genheit inzwischen bewältigt habe, ob sein Verhältnis zur Macht noch in Ordnung sei und ob er mich über die jüdische Geistigkeit aufklären könne. Kalick hatte einmal während einer Hitlerjugendveranstaltung einen Vortrag gehalten mit dem Titel
›Machiavelli oder der Versuch, ein Verhältnis zur Macht zu gewinnend Ich verstand nicht viel davon, nur Kalicks
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