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Ansichten eines Clowns

Ansichten eines Clowns

Titel: Ansichten eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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»offenes, hier deutlich ausgesprochenes Bekenntnis zur Macht«, aber an den Mienen der anderen anwesenden Hitlerjugendführer konnte ich ablesen, daß sogar ihnen diese Rede zu weit ging. Kalick sprach ohnehin kaum von Machiavelli, nur von Kalick, und die Mienen der anderen Führer zeigten, daß sie diese Rede für eine öffentliche Schamlosigkeit hielten. Es gibt ja diese Burschen, von denen man soviel in den Zeitungen liest: Schamverletzer. Kalick war nichts weiter als ein politischer Schamverletzer, und wo er auftrat, ließ er Schamverletzte hinter sich.
    Ich freute mich auf den jour fixe. Ich würde endlich etwas vom Geld meiner Eltern haben: Oliven und Salzmandeln, Zigaretten - ich würde auch bündelweise Zigarren einstecken und sie unter Preis verkaufen. Ich würde Kalick den Orden von der Brust reißen und ihn ohrfeigen. Verglichen mit ihm, kam mir sogar meine Mutter
    menschlich vor. Als ich ihn zum letztenmal traf, bei meinen Eltern in der Garderobe, hatte er mich traurig angesehen und gesagt: »Es gibt für jeden Menschen eine Chance, die Christen nennen es Gnade.« Ich hatte ihm keine Antwort gegeben. Ich war
    schließlich kein Christ. Es war mir eingefallen, daß er bei seinem Vortrag damals auch vom »Eros der Grausamkeit« gesprochen hatte und vom Machiavellismus des
    Sexuellen. Wenn ich an seinen Sexualmachiavellismus dachte, hatte ich Mitleid mit den Huren, zu denen er ging, wie ich Mitleid mit den Ehefrauen hatte, die
    irgendeinem Unhold vertraglich verpflichtet waren. Ich dachte an die unzähligen hübschen jungen Mädchen, deren Schicksal es war, entweder gegen Geld mit Typen wie Kalick oder ohne Bezahlung mit einem Ehemann die Sache zu tun, ohne daß sie Lust dazu hatten.
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    Ich wählte statt Kalicks Nummer die des Dings, in dem Leo wohnt. Irgendwann
    mußten sie doch mit dem Essen fertig werden und ihre sinnlichkeitsdämpfenden
    Salate verschlungen haben. Ich war froh, als sich dieselbe Stimme wie vorhin wieder meldete. Er rauchte jetzt eine Zigarre, und der Kohlgeruch war weniger deutlich.
    »Schnier«, sagte ich, »Sie erinnern sich?«
    Er lachte. »Natürlich«, sagte er, »ich hoffe, Sie haben mich nicht wörtlich
    genommen und Ihren Augustinus tatsächlich verbrannt.«
    »Doch«, sagte ich, »ich hab's getan. Das Ding auseinandergerissen und bogenweise in den Ofen gesteckt.«
    Er schwieg einen Augenblick. »Sie scherzen«, sagte er heiser.
    »Nein«, sagte ich, »in solchen Dingen bin ich konsequent.«
    »Um Gottes Willen«, sagte er, »ist Ihnen denn das Dialektische an meiner
    Äußerung nicht klar geworden?«
    »Nein«, sagte ich, »ich bin nun mal eine gerade, ehrliche, unkomplizierte Haut.
    Was ist nun mit meinem Bruder«, sagte ich, »wann werden die Herren die Güte
    haben, mit dem Essen fertig zu sein?«
    »Der Nachtisch ist eben reingebracht worden«, sagte er, »es kann nicht mehr lange dauern.«
    »Was gibt's denn?« fragte ich.
    »Zum Nachtisch?«
    »Ja.«
    »Eigentlich darf ich's nicht sagen, aber Ihnen sag ich's. Pflaumenkompott mit
    einem Schlag Sahne drauf. Sieht ganz hübsch aus. Mögen Sie Pflaumen?«
    »Nein«, sagte ich, »ich habe eine ebenso unerklärliche wie unüberwindliche
    Abneigung gegen Pflaumen.«
    »Sie sollten Hoberers Versuch über die Idiosynkrasie lesen. Hängt alles mit sehr, sehr frühen Erlebnissen - meistens
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    vor der Geburt - zusammen. Interessant. Höherer hat achthundert Fälle genau
    untersucht. Sie sind Melancholiker?«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Ich hörs an der Stimme. Sie sollten beten und ein Bad nehmen.«
    »Gebadet habe ich schon, und beten kann ich nicht«, sagte ich.
    »Es tut mir leid«, sagte er, »ich werde Ihnen einen neuen Augustinus stiften. Oder Kierkegaard.«
    »Den hab ich noch«, sagte ich, »sagen Sie, könnten Sie meinem Bruder noch etwas ausrichten?«
    »Gern«, sagte er.
    »Sagen Sie ihm, er soll mir Geld mitbringen. Soviel er auftreiben kann.«
    Er murmelte vor sich hin, sagte dann laut: »Ich notiers nur. Soviel Geld wie möglich mitbringen. Übrigens sollten Sie Bonaventura wirklich lesen. Großartig - und
    verachten Sie mir das neunzehnte Jahrhundert nicht so sehr. Ihre Stimme klingt, als wenn Sie das neunzehnte Jahrhundert verachten.«
    »Stimmt«, sagte ich, »ich hasse es.«
    »Irrtum«, sagte er, »Unsinn. Nicht einmal die Architektur war so schlecht, wie sie gemacht wird.« Er lachte. »Warten Sie bis zum Ende des zwanzigsten, bevor Sie das neunzehnte Jahrhundert hassen. Macht es Ihnen was aus, wenn

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