Anthologie - Das Lotterbett
uns nicht«, flüsterte sie hastig, als sie ins Haus hineingingen. »Dies ist ein so durch und durch langweiliger, ehrpusseliger Ort, wo sogar die Wände Ohren haben…«
»Was?!« rief er aus und blieb mitten auf der Treppe stehen.
»Meine Mama hat zwar nur auf eine Zeitungsannonce hin hier Quartier für mich bestellt, aber die Töchter ihrer besten Freundinnen haben hier gewohnt, und wenn die das Haus empfehlen, dann ist es klar, was einem in dieser ›Zuchtschule‹ bevorsteht«, seufzte sie melancholisch. »Aber ich hoffe, wir zwei können dennoch gelegentlich einen kleinen Spaß miteinander haben, glaubst du nicht?«
»Und ob! Darauf kannst du dich verlassen!« sagte er aus der Tiefe seines Herzens und betrachtete sie mit einem Blick, den sie nicht ganz deuten konnte. Er sollte etwas ausdrücken, das sie noch nicht kannte, aber ahnte…
»Aha, da haben wir also das Fräulein Kolman«, sagte die Pensionswirtin und prüfte Ann-Sofi von Kopf bis Fuß. Ann-Sofi erwiderte den Blick ebenso neugierig. Es war etwas um Frau Perssons Erscheinung, das sie nicht erwartet hatte und das sie irgendwie kribbelig machte. Die Wirtin unterschied sich zwar kaum von anderen Frauen in mittleren Jahren, die Ann-Sofi gesehen hatte, mit glatt und einfach gekämmtem Haar, diskretem Make-up, einem langen Kleid von ausgesuchter Qualität und Goldringen in den Ohren, aber um ihre Person lag eine merkwürdige, undefinierbare Atmosphäre, der Ann-Sofi früher nicht begegnet war. Frau Persson hatte etwas Hintergründiges, das merkte sie sofort.
Sie fühlte sich auf seltsame Weise gleich zu ihr hingezogen, und es schien, als sei diese Sympathie gegenseitig. Die Wirtin lächelte freundlich und klopfte ihr auf die Schulter.
»Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen, mein Kind. Darf ich dich Ann-Sofi nennen? Wir pflegen hier gleich per du zu sein, dann ist es leichter, sich kennenzulernen.«
Der Mann, der in Ann-Sofis Gesellschaft gekommen war, schien offenbar mit ihr bekannt zu sein, vermutete Frau Persson.
»Wie ich mich freue, Bertil«, sagte sie zu ihm und reichte ihm mit strahlendem Lächeln beide Hände. »Darf ich vorstellen: Das hier ist Bertil, und dieses reizende Mädchen ist Ann-Sofi. Aber ich nehme an, ihr kennt euch von früher, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Ann-Sofi und schlug die Augen nieder. Sie machte einen kleinen Knicks vor Bertil und fügte hinzu: »Guten Tag!«
»Sehr angenehm«, erwiderte er mit gespieltem Ernst.
Es zeigte sich, daß Ann-Sofi ein kleines, gemütliches Zimmer an einem Ende des Hauses bekommen hatte und Bertil eines am anderen Ende. Zwischen ihnen lag ein endloser Korridor mit zahlreichen Türen, und Ann-Sofi schnitt eine ärgerliche Grimasse, als sie ihre Koffer im Raum niederstellte, obwohl er sonnig war und eine schöne Aussicht auf den See bot.
Sie wollte vor allem bei Bertil sein, alles andere war ihr jetzt nicht wichtig.
Aber als sie sich unten im Speisesaal zum Abendessen trafen, wirkte er nicht im mindesten niedergeschlagen, er war im Gegenteil heiter, fast ausgelassen und sorgte dafür, daß sie einen kleinen Fenstertisch zusammen bekamen.
Während sie an dem langen Tisch standen, der mit allerlei Speisen reichlich gedeckt war, flüsterte er ihr zu:
»Nimm dir eine ordentliche Portion, die Luft hier zehrt.«
»Wir sind doch wohl nicht auf hoher See«, antwortete Ann-Sofi überlegen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie hier jemals irgendwo ungestört sein würden. Es waren etwa zwanzig Gäste in der Pension, allerdings nicht so viele ältere Damen, wie sie erwartet hatte, dafür um so mehr ältere Herren. Mindestens fünf davon waren über Vierzig. Soviel sie feststellen konnte, war kein einziges Ehepaar darunter. Drei der Mädchen waren in ihrem eigenen Alter, offenbar gehörten sie zu den hergeschickten »Zöglingen«, die einen »Milieuwechsel« benötigten, der Rest der Damen war verschiedenen Alters. Zwei Jungen in den Zwanzigern hatten sich aus unerfindlichen Gründen ebenfalls hierher verirrt und sahen durchaus nicht aus, als bedauerten sie es. Ann-Sofi nahm an, daß sie zu den religiösen Typen gehörten, denen irdische Freuden nichts bedeuten.
»Die Seeluft ist nichts gegen die Luft hier«, versicherte Bertil mit einem Augenzwinkern, das Ann-Sofi wieder verblüffte. Es wirkte, als verberge er ein Geheimnis, das ihn über alle Maßen belustigte.
»Nanu, hier gibt’s doch wirklich nichts besonders Merkwürdiges in der Luft«, sagte Ann-Sofi, runzelte die Stirn
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