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Anthrax

Anthrax

Titel: Anthrax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Cook
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gehenlassen. Er hatte zuviel Fett am Leib, und das wußte er auch. Ein leichter Stoß von hinten riß ihn aus seinen Gedanken. Er beugte sich aus dem geöffneten Fenster und drohte dem wild hinter ihm hupenden Taxifahrer mit der Faust. Dazu wetterte er mit seinem schweren Akzent los. »Leck mich doch!« brüllte der andere Fahrer zurück. »Fahr endlich!«
    »Wohin soll ich denn wohl fahren?« ereiferte sich Yuri. »Sind Sie nicht ganz bei Trost?«
    Er ließ sich wieder in seinen Holzperlen-Sitzbezug sinken und fuhr sich panisch mit der Hand durch sein dichtes braunes, beinahe schwarzes Haar. Dann stellte er den Rückspiegel so, daß er sich sehen konnte. Seine Augen und sein Gesicht waren gerötet. Er wußte, daß er sich beruhigen mußte, sonst würde er noch einen Herzinfarkt bekommen. Er brauchte dringend einen Schluck Wodka. »Das ist doch wohl ein verdammter Witz!« fluchte er wütend auf russisch vor sich hin. Dabei meinte er weniger das aktuelle Verkehrschaos als sein gesamtes Leben, das im übertragenen Sinn recht viel mit dem zum Stillstand gekommenen Verkehr gemeinsam hatte. Es war öde und tot, und dementsprechend war Yuri vollkommen desillusioniert. Aus trauriger Erfahrung wußte er inzwischen, daß der verlockende amerikanische Traum, stets die treibende Kraft in seinem Leben, nichts anderes war als eine Farce. Eine Farce, die der Welt, wie er glaubte, von den amerikanischen von Juden dominierten Medien nur vorgegaukelt wurde. Die Autos begannen zu rollen. In der Hoffnung, wenigstens über die verstopfte Kreuzung zu gelangen, setzte Yuri seinen Wagen ruckartig in Bewegung. Doch es sollte nicht sein. Das Auto vor ihm mußte kurz vor der Kreuzung anhalten. Yuri war gezwungen, ebenfalls zu bremsen. Im gleichen Augenblick prallte das hinter ihm fahrende Taxi wieder gegen seine Stoßstange. Wie beim ersten Mal stießen die beiden Stoßstangen nur ganz leicht gegeneinander, auf keinen Fall so stark, daß dabei irgendeine Beschädigung entstand. Aber Yuri war nun endgültig mit seiner Geduld am Ende.
    »Was, zum Teufel, soll das?« brüllte er aus dem Fenster. »Fahren Sie heute zum ersten Mal Auto?«
    »Halt’s Maul, du beschissener Ausländer!« brüllte der andere Taxifahrer zurück. »Warum bewegst du deinen Arsch nicht dahin zurück, wo du hergekommen bist?« Yuri wollte gerade zu einer Antwort anheben, ließ es dann aber bleiben. Er lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz und atmete geräuschvoll aus; es klang wie ein angestochener Reifen, aus dem die Luft entweicht. Unwissentlich hatte der Fahrer bei ihm ein Gefühl von toska geweckt, das jetzt von ihm Besitz ergriff und ihn einhüllte wie eine schwere Wolldecke. Toska, war ein russisches Wort, das zugleich für Melancholie, Niedergeschlagenheit, Sehnsucht, Seelenqual, Weltschmerz und Nostalgie stand und das man benutzte, wenn jemand alle Zustände auf einmal durchlitt und von tiefem seelischem Schmerz geplagt wurde. Gedankenverloren starrte Yuri ins Leere. Für einen Augenblick wurden seine Enttäuschung über Amerika und seine Wut durch eine plötzliche Erinnerung verdrängt. Ihm schoß ein Bild von sich und seinem Bruder durch den Kopf: Sie gingen an einem klaren, eisigen Morgen in seiner Heimatstadt Swerdlowsk in der ehemaligen Sowjetunion zur Schule. Vor seinem geistigen Auge sah er auch die Gemeinschaftsküche, in der es immer so fröhlich zugegangen war, und in seinem Herzen konnte er sich noch gut erinnern an seinen Stolz, ein Bürger der mächtigen Sowjetunion zu sein. Natürlich hatte er unter dem kommunistischen Regime auf das eine oder andere verzichten müssen; manchmal hatten die Frauen für Milch oder andere Grundnahrungsmittel Schlange gestanden. Aber es war ihnen längst nicht so schlechtgegangen, wie einige Leute behauptet hatten, und erst recht nicht so schlecht, wie die Verrückten in Amerika glauben wollten. In Wahrheit hatten die meisten Leute die allgemeine Gleichbehandlung durchaus begrüßt, und sie hatte zudem die Entstehung von Freundschaften gefördert – Parteifunktionäre natürlich ausgenommen. Auf jeden Fall hatte es weniger soziale Konflikte gegeben als in Amerika. Damals erkannte Yuri nicht, wie gut es ihm gegangen war. Doch jetzt war er klüger und würde zurückkehren. Er würde zurückkehren zu Rossiya-matoshka, zurück in den Schoß von Mütterchen Rußland. Zu diesem Schluß war er schon vor Monaten gekommen.
    Aber er würde nicht gehen, ohne sich gerächt zu haben. Man hatte ihn getäuscht und ihm seine Recht

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