Anthrax
amerikanischen Skinheads von der Skinhead-Bewegung in England abgeguckt – genauso wie die Springerstiefel und überhaupt ihre ganze Art, sich zu kleiden.«
»Aber warum gerade die Wikinger?« hakte Jack nach. »Ich dachte, die Skins stehen auf Nazi-Embleme.«
»Ihre Begeisterung für die Wikinger rührt von einem sehr verqueren Geschichtsbild«, erläuterte Tyrrell. »In den Augen der Skinheads verkörpern die einst plündernd und mordend umherziehenden Wikinger Eigenständigkeit und männliche Ehre.«
»Mr. Tyrrell glaubt, daß der junge Mann wegen seines Tattoos gehäutet wurde«, fuhr Lou fort. »Wer auch immer ihn getötet hat, war womöglich der Ansicht, daß Brad Cassidy es nicht wert war, mit einem Wikinger-Tattoo am Leib zu sterben.«
»Und ich hatte gedacht, diese Art Folter gäbe es seit dem Mittelalter nicht mehr«, grollte Jack.
»Leider muß ich mir schon des öfteren derart zugerichtete Leichen ansehen«, entgegnete Tyrrell. »Diese Kids sind äußerst gewalttätig.«
»Und bedrohlich«, fügte Laurie hinzu. »Sie sind richtige Psychopathen.«
»Hör mal, Laurie«, wandte sich Jack an seine Kollegin. »Könnte ich kurz unter vier Augen mit dir sprechen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte sie und bat die anderen, sie für einen Augenblick zu entschuldigen. Dann trat sie mit Jack zur Seite.
»Bist du gerade erst angekommen?« fragte Jack im Flüsterton.
»Vor ein paar Minuten«, gestand Laurie. »Was ist denn los?«
»Das fragst du mich?« gab Jack zurück. »Du bist doch diejenige, die sich seltsam verhält! Deine Geheimnistuerei treibt mich in den Wahnsinn. Was ist los? Was willst du heute abend mit Lou und mir besprechen?«
Trotz des Visiers vor ihrem Gesicht konnte er erkennen, daß Laurie grinste.
»Meine Güte«, staunte sie. »So hast du dich, glaube ich, noch nie für mich interessiert. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Komm schon, Laune! Hör auf, mir auszuweichen! Raus mit der Sprache!«
»Das würde jetzt zu lange dauern«, stellte Laurie klar. »Dann sag mir wenigstens, worum es geht«, forderte Jack sie auf. »Die pikanten Einzelheiten kannst du dir ja für später aufsparen.«
»Nein«, wehrte Laurie nachdrücklich ab. »Du wirst dich wohl oder übel bis heute abend gedulden müssen. Vorausgesetzt, daß ich mich bis dahin auf den Beinen halte.«
»Was soll das denn jetzt schon wieder bedeuten?«
»Jack! Ich kann jetzt nicht darüber reden. Du mußt bis heute abend warten – so wie wir es besprochen haben.«
»So wie du es festgelegt hast!« widersprach Jack. »Ich muß mich jetzt an die Arbeit machen«, verkündete Laurie. Sie drehte sich um und ging zurück an den Autopsietisch.
Jack war frustriert und gereizt. Er konnte es einfach nicht fassen, wie Laurie mit ihm umging. Leise vor sich hin fluchend, stieß er sich von der Wand ab und holte die Proben von Jason Papparis. Er wollte sie zu Agnes Finn hinaufbringen, damit sie einen Fluoreszein-Antikörper-Test auf Anthrax durchführte.
Kapitel 2
Montag, 18. Oktober, 9.30 Uhr
»Chert! Chert! Chert!« fluchte Yuri Davydov und bearbeitete mit der rechten Faust das Lenkrad seines gelben Chevy-Caprice-Taxis. Wenn er wütend war, fiel Yuri gern in seine russische Muttersprache zurück, und im Augenblick kochte er vor Wut. Er steckte im dichten Verkehr fest, und überall um ihn herum wurde gehupt, was das Zeug hielt. Vor sich sah er im verschwommenen Geflimmer eine endlose Schlange aus gelben Taxis mit abgestellten Motoren und aktivierten roten Bremsleuchten. Zu seinem Verdruß war obendrein die nächste Kreuzung mit jeder Menge Autos verstopft, die auf der im rechten Winkel verlaufenden Straße fuhren, so daß er trotz der hin und wieder auf Grün umspringenden Ampel hoffnungslos in dem schachbrettartigen Straßensystem feststeckte.
Der Tag hatte schon während seiner ersten Fahrt schlecht begonnen. Auf dem Weg die Second Avenue hinunter hatte sich ein Fahrradfahrer darüber beschwert, daß Yuri ihn angeblich geschnitten hatte, und ihm eine Beule in die Beifahrertür seines Taxis getreten. Yuri war aus dem Wagen gesprungen und hatte wie ein Rohrspatz auf den Idioten eingeschimpft. In seiner ersten Wut hatte er dem Mann eine runterhauen wollen, doch davon hatte er lieber Abstand genommen. Zwar war er genauso groß und muskulös wie dieser Radler und auch mindestens so aufgebracht gewesen wie der, doch schien der Sportler in erheblich besserer körperlicher Verfassung. Yuri war vierundvierzig und hatte sich ziemlich
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