Anthrax
unterschrieben hatte, die die Produktion von Bakterien und Viren für Kriegszwecke strikt verbietet. In seinen besten Zeiten beschäftigte das Programm in etlichen Forschungsund Produktionsanlagen mehr als fünfzigtausend Wissenschaftler und Techniker. Es wurde unter der Schirmherrschaft von Biopreparat geführt, einer dem Verteidigungsministerium unterstehenden Waffenschmiede. Das Programm soll von der Jelzin-Regierung beendet worden sein (zahlreiche Experten fürchten allerdings, daß es nicht vollständig abgebrochen wurde), was zur Folge hatte, daß eine Gruppe von Zehntausenden hervorragend ausgebildeten Biowaffen-Experten von heute auf morgen brotlos geworden ist. Zieht man das derzeitig in Rußland herrschende Chaos in Betracht, muß man sich unweigerlich die Frage stellen: Wo sind diese Leute jetzt, und was machen sie? Einige von ihnen fahren vielleicht Taxi in New York City wie Yuri Davydov, der enttäuschte und unzufriedene Einwanderer in Antbrax, und treffen sich mit ebenso unzufriedenen Mitgliedern ultrarechter Terrorgruppen.
Den Terrorismus unterstützende Diktaturen wie Irak, Iran, Libyen und Nordkorea haben die zunehmende Bedrohung durch Biowaffen noch verstärkt. Nach dem Golfkrieg mußten die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten schockiert feststellen, über welch einen enormen Vorrat an Biowaffen und welch eine große Anzahl an Produktionseinrichtungen zur Herstellung derartiger Waffen der Irak verfügte, von deren Existenz die Geheimdienste nichts wußten. Diese Enthüllung rüttelte etliche alliierte Regierungen wach. Bedauerlicherweise zog die Entdeckung dieser Kapazitäten zur biologischen Kriegführung jedoch gleichzeitig auch weltweit Terrorgruppen und Einzelpersonen in ihren Bann, die sich auf einmal intensiv für Biowaffen zu interessieren begannen. Warum biologische Waffen eine solche Anziehungskraft ausüben, liegt auf der Hand: Sie sind einfach und billig herzustellen; die erforderlichen Materialien, das Equipment und das Know-how lassen sich ohne weiteres beschaffen (einige erforderliche Informationen sind sogar problemlos über das Internet erhältlich); und größtenteils ist es zudem ein Kinderspiel, an die biologischen Wirkstoffe heranzukommen. Ein weiteres Merkmal, durch das sich Biowaffen auszeichnen, ist, daß sie sich von allen Massenvernichtungswaffen am besten für einen verborgenen und geheimen Einsatz eignen. Die Auswirkungen einer Freisetzung biologischer Kampfstoffe zeigen sich in der Regel erst viele Stunden oder sogar Tage später, so daß den Tätern ausreichend Zeit zur Flucht bleibt.
Zusätzliche Brisanz erhält die wachsende Bedrohung durch Biowaffen angesichts der weltweit sich zuspitzenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Probleme zahlreicher Länder. Während einigen Nationen zunehmender religiöser Fundamentalismus zu schaffen macht, die Regierungen anderer Länder von abVegigen nationalistischen Zielen getrieben werden und so manche Regionen in wirtschaftlicher Armut versinken, breiten sich im hochentwickelten Westen radikalisierte ultrarechte Terrorgruppierungen aus, deren simplifizierendes nationalistisches Weltbild in einer Ära weltweiter Globalisierung zunehmend zerbricht und die orientierungslos dahindümpeln. Vor diesem Hintergrund hat der Terrorismus weltweit zugenommen. Gerade die Verbindung aus zunehmendem Terror und der gesteigerten Faszination, die Biowaffen auf etliche gewaltbereite Gruppierungen ausüben, macht die derzeitige Situation so kritisch.
In Anthrax waren Gerichtsmediziner die ersten, die in Form eines einzelnen Anthraxfalls mit einem Biowaffenanschlag konfrontiert wurden. Da es in dem vorliegenden Roman eine einfache, aber sich nicht bestätigende Erklärung für den Vorfall gibt, stand Bio-Terrorismus auf der Verdachtsliste der Ärzte leider nicht besonders weit oben, so daß sie auf eine gründliche Erforschung des Falls verzichteten. Falls sie der Sache intensiver nachgegangen wären, hätten die Ereignisse, so wie sie sich entwickelt haben, möglicherweise verhindert werden können. Dies ist eine wichtige Lektion. Verlassen wir jetzt das Romangeschehen und begeben uns ins wirkliche Leben: Auch dort ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß Angehörige der medizinischen Berufe die ersten Experten sind, die mit einem eventuellen Bio-Terroranschlag konfrontiert werden. Die Möglichkeit eines solchen Anschlags muß heutzutage Teil jedes medizinischen Denkens sein, und zwar vor allem, wenn Krankheiten diagnostiziert
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