Anthrax
Chet zu, der das Gespräch nolens volens mitgehört hatte.
»Klingt, als hättest du den Fall so gut wie gelöst«, stellte Chet fest. »Dann hast du wenigstens keinen Grund, dich Hals über Kopf in Vor-Ort-Ermittlungen zu stürzen und dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
»Was für eine Enttäuschung!« seufzte Jack. »Kannst du mir mal bitte erklären, warum du enttäuscht bist?« fragte Chet, der Verzweiflung nahe. »Du hast eine hervorragende und schnelle Diagnose gestellt und zudem vermutlich ein schwieriges epidemiologisches Rätsel gelöst.«
»Das ist ja gerade das Problem«, brummte Jack. »Es ging zu einfach. Mein letzter exotischer Fall war da ein ganz anderes Kaliber. Ich mag nun mal lieber Herausforderungen.«
»Du hast wirklich keinen Grund, dich zu beklagen«, stellte Chet klar. »Ich wäre froh, wenn meine Fälle sich so glatt und elegant lösen ließen.«
Jack sah in das vor ihm liegende aufgeschlagene Medizinlexikon und hielt es Chet unter die Nase. Er zeigte auf einen Absatz und bat seinen Kollegen, ihn zu lesen. Chet folgte der Aufforderung und sah auf, als er fertig war. »Das nenne ich eine echte Herausforderung«, erklärte Jack. »Zumindest in epidemiologischer Hinsicht. Kannst du dir das vorstellen? Jede Menge Fälle von Lungenmilzbrand, weil Sporen aus einer Biowaffenfabrik entweichen? Was für eine Katastrophe!«
»Wo liegt denn Swerdlowsk?« fragte Chet. »Wie soll ich das wissen?« sagte Jack ratlos. »Wahrscheinlich irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion.«
»Ich wußte gar nichts von diesem Zwischenfall vor zwanzig Jahren«, erläuterte Chet. Er las den Absatz noch einmal. »Was für eine Farce! Die Russen haben die Katastrophe heruntergespielt und als Verursacher der Epidemie verseuchtes Fleisch angeführt.«
»Aus gerichtsmedizinischer Sicht wäre die Aufklärung der Epidemie eine faszinierende Aufgabe gewesen«, stellte Jack fest. »Jedenfalls mit Sicherheit eine größere Herausforderung, als festzustellen, daß das Opfer Teppichverkäufer war.«
Er stand auf. Im Gegensatz zu seinem frühmorgendlichen Übereifer machte er jetzt einen eher deprimierten Eindruck. »Wo willst du hin?« fragte Chet.
»Runter zu Calvin«, erwiderte Jack. »Er hat mir eingebleut, daß ich ihn sofort informieren soll, wenn der Fall sich tatsächlich als Anthrax entpuppen sollte.«
»Nun lach doch mal!« versuchte Chet ihn aufzumuntern. »Du siehst ja selbst aus wie eine Leiche.« Mit einem aufgesetzten Grinsen ging Jack zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. Nicht erzählt hatte er Chet, daß sein Mißmut nicht allein auf der in seinen Augen zu schnellen und einfachen Klärung des Anthraxfalles beruhte. Ebenso viele Gedanken machte er sich über das seltsame Verhalten von Laurie. Warum in aller Welt hatte sie ihn morgens um halb fünf aus dem Bett geworfen, bloß um sich mit ihm zum Abendessen zu verabreden? Und warum hatte sie Lou ebenfalls eingeladen?
Während er mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, überlegte er, wie er es Laurie heimzahlen konnte. Das einzige, was ihm in den Sinn kam, war, ihr in den nächsten Tagen ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen und dann häppchenweise mysteriöse Andeutungen fallenzulassen. Was Geschenke anging, war Laurie nämlich wahnsinnig neugierig, und diese Neugier brachte sie förmlich zum Platzen. Sie zwei Monate lang auf die Folter zu spannen, erschien ihm eine angemessene Revanche.
Im ersten Stock angekommen, fühlte er sich schon besser. Die Idee mit dem Weihnachtsgeschenk gefiel ihm zusehends. Jetzt mußte er sich nur noch überlegen, was er ihr kaufen wollte.
Calvin saß in seinem Büro und arbeitete die Papierberge ab, die Tat für Tag über seinen Schreibtisch gingen. In seiner riesigen Hand sah der Füllfederhalter fast ein bißchen komisch aus. Als Jack sich seinem Schreibtisch näherte, sah er auf.
»Wollen Sie wegen der Anthrax-Diagnose nicht doch noch mit mir wetten?« fragte Jack. »Erzählen Sie mir nicht, der Test ist positiv ausgefallen!«
entgegnete Calvin und lehnte sich zurück. Der Stuhl ächzte unter seinem Gewicht.
»Laut Agnes lautet die Diagnose Anthrax positiv«, berichte te Jack. »Das Ergebnis der Kulturen müssen wir natürlich noch abwarten.«
»Ach du große Güte!« rief Calvin aus. »Das dürfte den Leuten vom Gesundheitsamt wohl einige Kopfschmerzen bereiten.«
»Das glaube ich kaum«, entgegnete Jack. »Wie bitte?« hakte Calvin nach. Jack überraschte ihn immer wieder. »Wie soll ich das denn nun wieder
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